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Life

Lebensraum und Wintertraum

16.3.2023

Wenn sich in der kalten Jahreszeit der Schnee, die weiße Pracht, wie eine samtige Decke über die Landschaft legt, dann wird es vermeintlich still im Nationalpark Hohe Tauern. Doch dieser oberflächliche Eindruck täuscht. Viele Tiere sind auch im Winter aktiv. Wenn die zunehmenden Massen an Wintersportlern, die es vor allem im Rahmen von Skitouren vermehrt in entlegene Gegenden zieht, zum Halali auf die zahllosen Gipfel im Nationalpark blasen, ist das für die Tierwelt eine Herausforderung. Das erhebende Wintersporterlebnis des einen ist der pure Stress für den anderen. Stress, der den Winter für die Tiere nicht selten zum Überlebenskampf werden lässt. Sie brauchen Lebensräume. Schutzgebiete wie der Nationalpark Hohe Tauern dienen in erster Linie dem Schutz der Flora und Fauna vor den Eingriffen des Menschen. Natürlich kann man als Besucher auch im Winter die wunderbare Natur im Nationalpark genießen, jedoch sollte man dies im Bewusstsein tun, dass diese Landschaften gewissermaßen die Antithese zum intensiven Tourismus in den Skigebieten des Landes darstellen. Im Vordergrund sollte sanftes Naturerleben stehen, das von Rücksichtnahme auf den Lebensraum von Wild & Co. geprägt ist. Die Faszination, die das Skitourengehen ausübt, ist nachvollziehbar. Sie ist aber nicht ohne weiteres mit den Bedürfnissen der Tierwelt in einer ansonsten fast unberührten Winterlandschaft zu vereinbaren. Wenn die zwei Brettln und der g’führige Schnee zu verlockend sind, sollte man sich vor der Skitour einen Überblick über möglichst umwelt- und wildtierverträgliche Routenverläufe verschaffen. Zu diesem Zweck wurden in beliebten Tourengebieten in der Nationalparkregion Wild- und Waldruhezonen definiert, die auch auf Informationstafeln an den Ausgangspunkten beliebter Touren ersichtlich sind. Jägerschaft, Grundbesitzer, Forstwirtschaft, Touristiker, Nationalpark und die Plattform „Bergwelt Tirol – Miteinander erleben“ haben gemeinsam problematische Zonen erhoben, Ruhezonen festgelegt und Routenverläufe auf höchstmögliche Umweltverträglichkeit abgestimmt.


Leiser treten

Gerade deshalb empfiehlt es sich manchmal, etwas leiser zu treten. Die Schneeschuhe anzuziehen, um sich in gemächlicherer Art und Weise in der Natur zu bewegen, als das beim Skibergsteigen mit seinen rasanten Abfahrten der Fall ist. Dadurch ist man freilich nicht davor gefeit, in gewissen Bereichen genauso zum Störfaktor zu werden. Im Rahmen von geführten Rangertouren lässt sich das Schneeschuh-Erlebnis aber derart gestalten, dass zum einen der Fußabdruck im winterlichen Ökosystem des Nationalparks möglichst klein bleibt und man zum anderen im Gehen auch noch einiges an Wissen vermittelt bekommt. Dabei lernt man auch, die eigenen Grenzen und jene der Natur zu respektieren. Zum Beispiel dadurch, indem man auf den gekennzeichneten Touren bleibt und keinen unnötigen Lärm verursacht. Es geht nicht darum, jemandem die Bewegung in der winterlichen Nationalparklandschaft zu verleiden, sondern darum, sich im Bewusstsein dort zu bewegen, dass es sich um einen sensiblen Lebensraum handelt. Einen Lebensraum, in dem Leben für die zahlreichen Tierarten und Erleben für die sportiven Naturnutzer gleichermaßen möglich sein soll.

Mit dem Wildtierbiologen Dr. Gunther Greßmann haben wir die Komplexität dieses Ökosystems und seiner Tierarten erkundet und erfahren, wie man sich verhalten sollte, um den winterlichen Nationalpark möglichst wildtierverträglich genießen zu können:


TIROL Magazin: Es gibt die ebenso romantische wie falsche Vorstellung, dass die meisten Tiere im Winter ohnehin schlafen würden und der Lebensraum deshalb weniger anfällig für Störungen sei. Wie verhält es sich tatsächlich?

Gunther Greßmann: Man muss die Störung von Wildtieren gesamthaft sehen und nicht auf den Winter beschränkt. Störungen, die für die Tiere gravierende Folgen haben können, beginnen viel früher und schaukeln sich auf. Arten wie Gams-, Rot- und Steinwild beginnen bereits im August damit, sich auf den Winter vorzubereiten. Sie beginnen, Fettreserven aufzubauen und langsam die Körpertemperatur herunterzufahren. Der Stoffwechsel wird gedrosselt, die Herzschlagrate verlangsamt sich. Werden die Tiere dabei häufiger gestört, ist das ein Problem, weil sie dadurch mit weniger Fettreserven in den Winter gehen. In vielen Fällen ist es die Aufeinanderfolge und Aufschaukelung einzelner Störungen, die für das Wildtier zum Problem werden.

Ein Mensch ist kurz genervt, wenn er gestört wird, und dann geht’s wieder. Auf Tiere lässt sich das wohl nicht umlegen?

Nein. Wir sind aber im Gegensatz zu den Tieren auch nicht davon abhängig, viel Tageszeit mit Nahrungssuche verbringen zu müssen.

Naturnutzer sollten also schon im August besondere Vorsicht walten lassen, um die Tiere möglichst wenig zu stören?

Wir haben es in der Natur mit ganz unterschiedlichen Tierarten zu tun, die verschiedene Strategien haben, um  den Winter zu meistern. Es gibt sogar Unterschiede innerhalb der Arten, was den Umgang mit Störungen betrifft, Eltern mit Jungtieren, männliche Tiere, ja sogar einzelne Charaktere gehen anders damit um, auch in Abhängigkeit davon, welche Erfahrungen die Tiere in der Vergangenheit gemacht haben. Noch schwerer zu fassen ist allgemein die Tatsache, dass man es beim Thema Störungen oftmals mit Langzeitprozessen zu tun hat, die sich auf verschiedenen Ebenen – individuelle und generell – auswirken können. Tiere wechseln beispielsweise für einen gewissen Zeitraum den Ort, kommen aber wieder zurück, wenn die Störung aufhört. . Tiere, die dauernd ausweichen müssen, haben ein höheres Stresslevel und geringere Fettreserven. Das wirkt sich auch nachteilig auf die Nachwuchsraten aus in dem Sinne, dass Würfe ausbleiben oder die Anzahl der Jungen sinkt. Das wirkt sich in der Folge auf der Populationsebene aus. Die Auswirkungen werden oft erst nach zehn, fünfzehn Jahren sichtbar. Schneehühner verharren bei Störungen solange als möglich als möglich in der Hoffnung nicht entdeckt zu werden – was bereits Stress bedeutet –, sind aber, wenn sie abfliegen müssen, zusätzlich noch für Feinde wie Adler und Fuchs wesentlich besser sichtbar


Das ist also mit Langzeitprozessen gemeint. Gibt es dabei noch andere Aspekte?

Gerade bei den größeren Wildtieren spielt sich sehr viel über Traditionen ab. Dabei geht es um erlerntes Verhalten, welches das Jungtier vom Muttertier übernimmt. Häufige Störungen ändern auch das Raum-Zeit-Verhalten der Tiere. Die Tiere gehen mit ihren Jungen dorthin, wo sie sich weniger gestört fühlen und die Jungtiere lernen dadurch, dass dies vermutlich ein passender Lebensraum ist und ziehen ihre Jungen so es möglich ist, dann dort auf. Langfristig kommt es somit zu Veränderungen in der Wildverteilung oder im Falle von territorialen Arten zu vermehrten Revierkämpfen.


Die Tiere drängen an Orte, an denen sie nicht gestört werden, wo wiederum die Ressourcen knapper werden.

Grundsätzlich ja. Das ist ein Problem, das es vor allem mit der Winternutzung gibt, vom Skitourengehen übers Schneeschuhwandern bis hin zum Speedflying. Früher gab es gewisse Standardrouten, die begangen wurden. Jetzt ist es so, dass vielen ein Gipfel pro Tag gar nicht mehr reicht, sondern gleich der nächste her muss. Der Wintersport geht viel mehr in die Fläche. Das macht es für viele Tierarten schon schwierig, ruhige Lebensräume vorzufinden.


Plakativ formuliert könnte man sagen, dass mit der Zunahme der Fitness der Naturnutzer die Fitness der Tierpopulationen abnimmt?

Es muss gar nicht unbedingt die Fitness sein, sondern es kann auch die Anzahl und Verteilung der Naturnutzer sein.


Gibt es Unterschiede bei den Arten, was den Umgang mit Stress betrifft?

Große Arten haben vielleicht mehr Möglichkeiten, mit einer Störung umzugehen. Kleinere dagegen, wie das Schneehuhn, können nicht viel Fettreserven anlegen, weil sie sonst nicht mehr fliegen könnten, wenn es eng wird Werden solche Arten mehrmals hintereinander an der Nahrungsaufnahme gehindert, geht es schon ums Überleben. Es braucht da gar nicht viel an Störung. Der Steinbock geht mit bis zu 25 Kilogramm Fettreserven in den Winter und kann Störungen eine Zeit lang relativ gut austarieren. Diese Fettreserven braucht er im Winter, weil die Nahrung in dieser Zeit nicht nährstoffreich genug ist. Vereinfacht gesagt kann es dem Steinbock völlig egal sein, wie das Wetter ist – ob es sonnig ist oder ob es schneit, ob Schnee liegt oder nicht. Er ist immer auf seine Fettreserven angewiesen. Unsere heimischen Arten sind fast alle an Kälte besser angepasst als an Wärme. Wärmere Temperaturen im Winter führen bei ihnen sogar oft zu einem höheren Stoffwechselumsatz, was wiederum mehr Energie kostet. Besonders kritisch wird es für Steinbock und Co. eher gegen Ende des Winters, wenn die Reserven aufgezehrt sind. Trifft ein Skitourengeher im März auf eine tote Gämse, kann er beispielsweise schon im Dezember durch Störungen dazu beigetragen haben. Das meine ich damit, wenn ich sage, dass die Zusammenhänge komplex sind.


Das bedenkt wohl kaum jemand, wenn er sich in der Natur bewegt. Skitourengehen ist ein gesellschaftlicher Trend, der nicht mehr weggehen wird. Gibt es überhaupt einen Weg, den Naturraum im Winter für die sportliche Betätigung naturverträglich zu nutzen?

Das ist eine zweischneidige Frage. Sobald wir im Gelände unterwegs sind, befinden wir uns im Lebensraum anderer Arten. Es ist aber durchaus sinnvoll, dass die Leute die Natur nutzen und auch genießen, weil sie dadurch einen Bezug dazu bekommen. Dadurch entsteht die Bereitschaft, sie zu schützen. Es wäre gut, könnte man die Naturnutzung in gewisse Bahnen lenken und von der Fläche wieder etwas weg bekommen. Freiwilligkeit halte ich diesbezüglich für einen guten Zugang. Dazu braucht es aber gut informierte Naturnutzer, die Verzicht üben können und auch wollen. Sonst steuern wir darauf zu, dass es irgendwann Gebiete geben wird, die gesperrt sind. Es gibt unterschiedliche Ansätze, wie man damit umgehen kann. In Österreich setzt man auf Freiwilligkeit, in Graubünden beispielsweise gibt es seit langem Wildschutzgebiete und -ruhezonen, in denen gestraft wird. Ich bin ein Freund der Freiwilligkeit, obwohl in der Akzeptanz der Bevölkerung ein Wandel zu beobachten ist und eine „Ich-ich-ich-Mentalität“ am Vormarsch ist.


Dann wird es mehr Bildung und vor allem Bewusstseinsbildung brauchen, damit die Naturnutzer überhaupt damit beginnen, über diese Thematik nachzudenken.

Es gibt mittlerweile sehr viele Möglichkeiten und Lenkungsprojekte, um sich zu informieren, wo zumindest sensible Lebensräume sind. Würde das respektiert werden, wäre schon einiges erreicht. Jeder Naturnutzer könnte sich über das Internet mit Wildtieren beschäftigen. Es gibt dort jede Menge Verhaltenstipps. Es gilt, sich bewusst zu machen, dass man da draußen grundsätzlich ein möglicher Störfaktor ist. Das gilt selbst dann, wenn man keine Tiere zu Gesicht bekommt. Es gibt den schönen Begriff der „Störschleppe“, das ist der Bereich um sich herum, den man mit seinem Verhalten beeinflusst. Je nach Wildtierart kann dieser Bereich sehr groß sein. Rotwild beispielsweise kann den Menschen bei geringsten Luftströmungen schon auf rund einen Kilometer riechen.


Gibt es außer Vermeidung keine guten Strategien, um den Stress der Wildtiere zu minimieren?

Es hilft, wenn nicht jeder Skitourengeher seine eigene Spur anlegt. Das gilt beim Aufstieg, aber vor allem bei der Abfahrt. Ein Pulverschneehang ist verlockend. Schnee- und Birkhühner sind in ihren Höhlen, in welchen sie oft die Nächte und auch Teile des Tages verbringen, blind und können Vibrationen in der Schneedecke über eine große Entfernung wahrnehmen und schalten dann auf Alarmbereitschaft. Es ist also besser zu vermeiden, in die Fläche zu gehen. Da sind besonders die Einheimischen Wintersportler gefordert, die sich gut auskennen und oft die erste Spur ziehen. Die Nutzer sind zweigeteilt. Die einen gehen sehr aufmerksam und rücksichtsvoll durch die Natur, für die anderen ist der Berg nur noch ein Sportgerät und eine Kulisse zur Selbstdarstellung.


Welche Rolle spielt die Wahl der Sportgeräte – Tourenski oder Schneeschuhe –, was die Störungswahrscheinlichkeit betrifft?

Mit beiden kann man sich prinzipiell überall bewegen. Beim Tourenski gibt es das zusätzliche Problem, dass man sich bei der Abfahrt schneller fortbewegt. Bei perfekten Firnbedingungen im Frühjahr kann man sehr gut steile Rinnen abfahren und kommt so mitunter auch in Einstandsgebiete, die sonst noch eher Ruhe haben.Es gibt außerdem viel mehr Skitourengeher als Schneeschuhwanderer.


Können sich die Tiere an die Sportler gewöhnen?

Gewöhnung bedeutet, dass auf einen Reiz keine Reaktion gesetzt wird – das findet da draußen aber selten statt. Oftmals, wenn ein Tier nicht flieht, interpretieren wir das als Gewöhnung. Aus Sicht des Wildtiers stellt sich aber vielmehr die Frage, wobei wo es weniger Energie verliert. Beim Stehenbleiben und gestressten Aushalten der Gefahr oder beim Wegrennen. Den Begriff Gewöhnung würde ich dafür deshalb nicht verwenden wollen.

Text: Marian Kröll

Fotos: NPHT / Stefan Leitner

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