Klar, Nachhaltigkeit, Regionalität und Saisonalität sind Begriffe, ohne die man heutzutage auch in gehobenen Kochzirkeln nicht mehr auszukommen scheint. Werden regionale Produkte allerdings so raffiniert interpretiert und zu stimmigen Gerichten komponiert wie bei Clemens Gesser, wirkt das nicht etwa bemüht oder gar aufgesetzt, sondern folgerichtig. Prototypisch darf wohl der Südtiroler Dreisternekoch Norbert Niederkofler – auch er wirkt im Pustertal – für diese Art des Kochens stehen, als bloße Epigonen sollte man Youngster wie Clemens Gesser oder auch David Senfter (Porträt Seite 86) jedoch keinesfalls begreifen. Sie haben eine eigene kulinarische Handschrift und verfolgen einen eigenen Zugang. Und das ist gut so.
Alpine Heimatküche
Ein Hotelgast bedankt sich bei der kurzen Verabschiedung bei Gesser und lobt die Kulinarik. Dabei sind die Adjektive wie „sensationell“ und „hervorragend“ nicht zu überhören. Vom Kochen war Clemens Gesser bereits fasziniert, als er als kleiner Bub bei der Oma in die Töpfe geschaut hat. „Diese Begeisterung war immer schon da“, sagt er. Astronaut oder Flugzeugpilot wollte Gesser nie werden, Profifußballer schon. Daraus ist aber nichts geworden. Schlecht für die Anhänger des runden Leders, sehr gut für die Genussspechte.
Der junge Clemens Gesser beginnt im Jahr 2007 eine Lehre im elterlichen Betrieb, dem 3-Sterne-Hotel Gesser im Osttiroler Sillian. Der Vater ist zugleich Küchenchef und damit rund um die Uhr für den pubertierenden Sohn zuständig. „Das hatte Vor- und Nachteile. Wenn es einmal unterschiedliche Ansichten gab, haben wir uns schnell wieder zusammengerauft. Ich war von Anfang an voll eingeteilt und habe alles rund ums Kochen von Grund auf gelernt“, erinnert sich Gesser gerne an seine Lehrzeit daheim zurück, die eine sehr solide Grundlage für sein weiteres kulinarisches Schaffen gewesen ist. Als Koch flügge geworden ist der Sillianer erst ein paar Jahre später, als es ihn in die weite Welt hinauszog. Einmal folgte er dem Ruf der See und lernte auf einem Kreuzfahrtschiff dem rauen Wind zu trotzen, der am Meer gleichermaßen wie in der Küche bisweilen zu wehen pflegt. Der Koch konnte sich auf hoher See aber nicht nur kochtechnisch, sondern auch menschlich weiterentwickeln. „Wenn man mit Menschen aus 40 Nationen zusammenarbeitet, bringt einen das in jungen Jahren weiter. Ich habe verschiedene Kulturen und Küchen kennengelernt.“
In der Küche startet der aufstrebende Jungkoch allerdings erst 2016 so richtig durch, als die Fußballschuhe endgültig und vollständig durch die Kochschürze ersetzt werden. Ein Jahr später übernahm er mit seinem Bruder Markus, der unter anderem für die Weine verantwortlich ist, den elterlichen Betrieb. Spätestens zu diesem Zeitpunkt waren der eigenen Schaffenskraft kaum mehr Grenzen gesetzt. Mit dem Freiraum nahm auch die Lust zu, sich an einer eigenen Interpretation des Kochens mit überwiegend regionalen Zutaten zu versuchen. Daraus ist eine, wie Gesser sie nennt, Alpine Heimatküche entstanden. Gesser hat sich mit den lokalen Produzent*innen, überwiegend aus der Landwirtschaft, vernetzt und ist heute bestens darüber im Bilde, wann und wo gerade gute Lebensmittel verfügbar sind. Von der Kalkulation her ist der konsequente Griff zu regionalen Produkten nicht unbedingt teurer als die Massenware aus dem Gastrogroßhandel. „Kartoffeln sind direkt vom Bauern sogar billiger, bei tierischen Produkten ist es natürlich anders, aber dafür bekommt man sehr hochwertigen Fisch und Fleisch, das langsam und sorgsam wachsen konnte.“ Das macht am Teller natürlich bella figura.
Clemens Gesser ist aber kein Heimatromantiker. Er weiß genau, dass Heimat nicht automatisch Topqualität bedeutet. „Man muss aussuchen, das Ausgesuchte ist dafür hervorragend.“ Speziell im Sommer gibt es einiges an Obst und Gemüse aus der Region, man hat gewissermaßen die Qual der Wahl. In den anderen Jahreszeiten wird das Angebot dagegen sehr überschaubar. Da beginnt die Qual die Wahl zu überwiegen. „Wir legen Gemüse oder Pilze ein, beziehen aber auch Ware vom Gemüsehändler aus Nordtirol“, sagt Gesser, der in diesen Dingen gewiss kein Dogmatiker ist.
So schmeckt die Heimat
Auf der Konsument*innenseite hat Clemens Gesser in den letzten Jahren eine sanfte Hinwendung von der Masse zur Klasse beobachten können. Mehr ist nicht mehr mehr. Weniger, aber dafür besser ist die Devise. „Hochwertige Produkte und viel ehrliches Handwerk“ seien zunehmend gefragt. Da der Fokus auf dem liegt, was Böden und Gewässer in der Gegend hergeben, hat Clemens Gesser längst nicht ausgelernt. Immer wieder entdeckt er etwas Neues, ein Kräutlein da, ein Pflänzchen dort.
Apropos Pflänzchen: Auch Hanf kommt in Gessers Küche zum Einsatz. Natürlich nur kulinarisch, als Öl oder Hanfsamen. Bei der Dosierung heißt es aber auch hier Obacht geben. „Hanf ist intensiv und schmeckt vor, wenn man nicht aufpasst. In der richtigen Menge sorgt er fürs gewisse Etwas und ist zudem sehr vielseitig einsetzbar.“ Gessers Interpretation der Alpinen Heimatküche geht in etwa so: „Respekt für die Natur, die Umgebung und respektvoller Umgang mit dem Produkt, von dem ich möglichst alles verwerte.“ Nose-to-Tail heißt’s bei den Viechern, beim Gemüse spricht man analog von Leaf-to-Root. Soll sein, ist dem Koch aber einerlei. Powidl. „Das soll keine Marketinggeschichte sein, ich mache das für mich selbst“, sagt er.
So wenig wie möglich wegzuwerfen ist auch eine Herausforderung. So wie Günter Grass mit seinem autobiografischen Buch „Beim Häuten der Zwiebel“ zu entziffern suchte, „was der Zwiebelhaut eingeschrieben steht“, hat sich auch Gesser einige Gedanken rund um die vielschichtige Pflanze gemacht, eher er „Alles von der Zwiebel“ aufgetischt hat. Heute ist das ein Signature Dish. Dann gibt es geschmorte Zwiebel, Zwiebelpüree, Zwiebelsud und Zwiebelknusper. Wer keine Zwiebeln mag, wird mit dem Gericht nicht glücklich werden, für alle anderen – eine weit überwiegende Mehrheit, wetten? – ist es ein Gedicht von einem Gericht. Die Essenz der Zwiebel und alles drumherum. Genießerherz, was willst du mehr? Alles andere, was aus der Gesser’schen Küche kommt, zum Beispiel einen der vier bis sieben Gänge der wechselnden Überraschungsmenüs, die Gesser an seinem Chef’s Table von Mittwoch bis Samstag ab 18:30 Uhr kredenzt. Im Verhältnis zur Qualität des Gebotenen durchaus vernünftig bepreist, wäre noch hinzuzufügen.
Der Koch verfolgt unter anderem den Ansatz, hochwertigen Ausgangsprodukten nicht allzu sehr in die Quere zu kommen und diese wirken zu lassen. Beispiel gefällig? „Die Milchprodukte vom Peisserhof sind geschmacklich ausgezeichnet. Zum Naturjoghurt braucht es nicht viel, ein bisschen Honig vom Imker und ein paar andere Kleinigkeiten, das reicht.“ Gutes sollte man nicht verfälschen, sondern nur gekonnt in Szene setzen. Nicht verzichten mag Gesser auf sein selbst de- signtes Kräuteröl. Da kommen abgebrannter Lauch, Petersilie, gelegentlich auch Bärlauch als Aromaten zum Zug. Das genaue Rezept wird natürlich nicht verraten. Obwohl der Osttiroler Baumbestand durch den Borkenkäfer arg mitgenommen ist, macht Gesser auch gelegentlich ein Fichtenöl. Noch stehen ja ein paar Bäume. Das gibt ein „fetzgrünes, sehr aromatisches Öl, das vielseitig einsetzbar ist“. Unter anderem verbaut es Gesser auch in seinen Desserts. Der Koch singt zudem ein Loblied auf die Gerste aus Dölsach und die Polenta, die er aus Nikolsdorf bezieht.
Trotz – oder gerade wegen – des regionalen Fokus scheut sich Clemens Gesser nicht davor, gelegentlich einen Blick über den Tellerrand zu werfen und sich aus anderen Küchen zu bedienen. Den asiatischen Ramen, bei uns mittlerweile als fancy Nudelsuppe gefühlt allerorten angekommen, gibt er einen neuen, alpenländischen Rahmen. Statt Miso bildet eine Spitzkohlpaste die Basis, der Shiitake-Pilz weicht dem heimischen Eierschwammerl, lediglich der Schweinebauch kommt in Osttirol genauso hinein wie in Asien, Ehrensache. „Ein Wintergericht, das richtig Power hat und gut ankommt“, sagt Gesser, der seiner Spielart der Ramen bei Verfügbarkeit auch gelegentlich ein Lammherz spendet. In Sachen Pasta ist Gesser übrigens trotz geografischer Nähe zur italienischen Staatsgrenze ganz Osttiroler. Hierzulande heißen die gefüllten Teigtaschen Schlipfkrapfen. Punkt. Alles andere grenzt an kulturelle Aneignung. Obwohl der Sillianer natürlich Pasta in all ihren Variationen auch kann.
Hirnschmalz, Hingabe und Handarbeit
Mit seinem wachsenden Repertoire will der Koch nicht länger hinterm Berg halten. Zukünftig wird es im Betrieb auch Lehrlinge geben. „Wir möchten auch unsere Philosophie und unseren Zugang weitertragen“, sagt Gesser. Ausgelernt habe man als Koch ohnehin nie. „Es gibt viele, zu denen man aufschaut“, sagt Gesser, der derzeit nebenher bei Kochweltmeister Philipp Stohner in Innsbruck die Ausbildung zum Küchenmeister absolviert. Das gibt dem Kochen dann einen akademischen Anstrich, auf Bachelorniveau.
Das Niveau ist allerdings bereits heute beachtlich hoch, und dennoch hat man das Gefühl, dass Clemens Gesser noch nicht den höchsten Gang eingelegt hat. Da geht noch was. „Wir werden jedenfalls am Ball bleiben“, verspricht er. Da kommt wieder der Fußballer durch, dem man auch als Koch den Zug zum Tor nicht absprechen kann. Beim Chef’s Table lässt sich der Küchenchef natürlich auch selbst blicken und erklärt seinen Gästen, was es denn da zu schnabulieren gibt. Hinter jedem Gericht stecken Hirnschmalz, Hingabe und Handarbeit. „Ein Brotgang klingt unspektakulär, aber wir machen unser Brot ausschließlich selbst, mit etwas Sauerteig und Apfel- oder Balsamessigen.“ Wenn es die Zeit zulässt, wird im Herbst gelegentlich sogar dem Wild das Fell über die Ohren gezogen. „Früher haben wir mehr zerlegt, heute finden wir kaum noch die Zeit dafür.“ Unlängst hat eine Kuh aus dem Villgratental ihr überaus langes und glückliches Leben für Clemens Gesser gegeben. „Das Fleisch mit den gelben Fetteinlagerungen ist sehr aromatisch, das hat mir gut ins Konzept gepasst.“
Gesser ist auch Mitglied im Netzwerk Osttirol Deluxe, bei dem die Besten aus der Region das Beste aus der Region auf die Teller zaubern. An Hauben, Gabeln, Sternen und sonstigen Insignien der gehobenen Kochkunst herrscht da fürwahr kein Mangel. „Kochen ist so vielseitig wie kein anderer Job. Von daher bleibt es immer spannend“, verspricht Clemens Gesser. Gespannt darf man auch als Genussspecht der köstlichen Dinge harren, mit denen der Koch seinen Chef’s Table noch beschicken wird.
Text und Fotos: Marian Kröll