Depression ist eine Volkskrankheit. Volkswirtschaftlich kostet das viel Geld, doch schwerer wiegt noch der Verlust an individueller Lebensqualität, der mit dieser Erkrankung einhergeht. Sie ist gut dokumentiert, obwohl nach wie vor nur sehr wenig über die biologischen Ursachen bekannt ist, und dennoch wird nur wenig in die Prophylaxe investiert und selbst für Akutpatienten ist die medizinische Versorgungslage nicht rosig. Besonders dramatisch ist die Situation für Kinder und Jugendliche, die sträflich unterversorgt sind. Das war schon vor der Pandemie so und ist durch die teils starke Zunahme dieses Krankheitsbilds seit Beginn derselben nicht besser geworden.
Die kindliche und jugendliche Psyche ist durch die Wirren unserer Zeit und unheilvolle Gleichzeitigkeit verschiedener Krisen stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Erschwerend kommt hinzu, dass in der Gesellschaft nach wie vor eine gewisse Sprachlosigkeit herrscht, was psychische Leiden betrifft. Es ist schwierig, über derartige Dinge zu sprechen, wenn man nicht die nötigen Worte dafür hat und auch nicht eine Umgebung geschaffen wurde, die ein offenes Ohr für das hat, was auf der Seele lastet. Die emotionale Ressourcenarmut, um mit widrigen äußeren Umständen besser umgehen zu können, führt vielfach dazu, dass sich die Menschen in sich selbst zurückziehen. Oder sich ins Netz flüchten. Bei Jugendlichen manifestiert sich vermehrt eine nihilistische Grundhaltung, wie Kinder- und Jugendpsychologin Kathrin Sevecke im anschließenden Interview erklärt. Damit verbunden steigt auch der Drogenkonsum. Beträchtliches Suchtpotenzial haben aber auch das Internet und in besonderem Maße die Social-Media-Plattformen, die dabei geschickt die Wirkweise der körpereigenen Droge Dopamin ausnützen.
Dopamin ist einer der wichtigsten Neurotransmitter, der landläufig als Glückshormon bezeichnet wird, dessen tatsächliche Wirkweise aber eher in der Antriebssteigerung und Motivation vermutet wird. Machen die sozialen Medien also süchtig? Mit Sicherheit, und das ist nicht etwa eine unangenehme Nebenwirkung, sondern ein von den jeweiligen Plattformen völlig beabsichtigter Effekt, in dessen Aufrechterhaltung sehr viel Geld investiert wird. Sie sind darauf ausgerichtet, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, zu halten und massenhaft Wiederholungstäter zu generieren. Dazu machen sie sich unser körpereigenes Belohnungssystem zunutze. Das ist ebenso intelligent wie perfide. Man ist sich dieses Umstands auch bei Branchenriesen wie Meta, vormals Facebook, durchaus bewusst. „Die kurzfristigen, von Dopamin gesteuerten Rückkopplungsschleifen, die wir geschaffen haben, zerstören das Funktionieren der Gesellschaft“, erklärte Chamath Palihapitiya, der ehemalige für Benutzerzuwächse zuständige Vizepräsident bei Facebook, schon vor einigen Jahren Studenten der US-Eltiteuni Stanford. Plattformen wie Facebook, Instagram oder TikTok machen sich – plakativ formuliert – dieselben Mechanismen im zentralen Nervensystem der Menschen zunutze wie Spielautomaten oder Kokain.
Mit dem Smartphone haben wir das ideale Gerät an der Hand, um zu keiner Tages- und Nachtzeit auf einen Dopamin-Hit verzichten zu müssen. Niederschwelliger kann man eine Sucht fast gar nicht mehr bedienen. Die meisten Smartphone-Besitzer beschleicht ein ungutes Gefühl, das sich sogar bis zur Angst steigern kann, wenn sie ihr Mobiltelefon, auf dem Telefonieren längst zur Nebenfunktion geworden ist, einmal verlegt haben. Mittlerweile kennt die Wissenschaft sogar die als Phantom-Vibrations-Syndrom (PVS) bezeichnete irrtümliche Vorstellung von Besitzern von Mobiltelefonen, dass ihr Gerät vibriert, obwohl sie es gar nicht eingesteckt haben.
Mit der Allgegenwart von Social-Media-Plattformen hat sich das potenzielle soziale Umfeld der Menschen nicht nur vervielfacht, sondern ist geradezu explodiert. War man früher auf einige Dutzend bis einige Hundert Menschen beschränkt, sind es nun Milliarden, die vermeintlich nur darauf warten, unsere Bekanntschaft zu machen. Und die meisten von ihnen sind sportlich, aktiv und haben – so wird es auf Social Media dargestellt – ein erfülltes und schönes Leben mit wenigen Schattenseiten. Von der Garderobe bis zum Background ist alles auf Hochglanz poliert, makellos. Derweil ist die Produktion von Instagram-Momenten für die Leute, die für Klicks und Likes zu Darstellern ihres eigenen Lebens geworden sind, oft gar keine so freudige Angelegenheit, zumal sie bei vielen Postern regelrecht in Arbeit ausartet. Arbeit, die doppelt belohnt wird.
DER PAWLOWSCHE MENSCH
Mit Zustimmung, mit Likes, jener Social-Media-Währung, die wiederum auf den Dopamin-Nervenbahnen für Hochbetrieb sorgt. Die renommierte US-amerikanische Psychiaterin Anna Lembke, die auf der Eliteuni Stanford forscht und lehrt, zeigt sich alarmiert über das hohe Potenzial unserer digitalen Süchte und bringt die Zunahme von Depressionen und Angststörungen in den westlichen Industrieländern mit dem Neurotransmitter in einen kausalen Zusammenhang. Während Lembke früher Antidepressiva verschrieben habe, rät sie heute zunehmend zu einer anderen Vorgangsweise: Dopaminfasten.
Ziel dieser neuen und trendigen Art des Fastens ist es, durch Reizentzug einer Überstimulation des Gehirns entgegenzusteuern. Es wird versucht, die eigene Erwartungshaltung zu drosseln, das Belohnungssystem auszubremsen und so die Stimulation zu verhindern. Das ist nicht einfach und erfordert Willenskraft. So schnell man sich – wie der Pawlowsche Hund – daraufhin konditioniert hat, beim Einstieg in die sozialen Medien das Belohnungssystem anzuwerfen, so schwierig ist es, von der Droge wieder ein wenig herunterzukommen. Denn Dopamin-Dauerfeuer ist kontraproduktiv, weil bei permanenter Stimulation immer stärkere Reize gebraucht werden, um dasselbe Glücksgefühl zu empfinden. Deshalb ist es gerade in unserer völlig durchdigitalisierten Welt lohnend, sich reizarme Rückzugsräume zu schaffen, ein Buch in die Hand zu nehmen oder ein Magazin wie dieses. Irgendetwas, das nicht mit einem interagiert und nicht zu dem Zweck geschaffen wurde, Dopamin zu triggern.
Die Neurowissenschaft hat entdeckt, dass, wie Lembke erläutert, „Vergnügen und Schmerz in denselben Teilen des Gehirns verarbeitet werden und das Gehirn sich bemüht, sie im Gleichgewicht zu halten“. Dieser Zustand heißt Homöostase und wird durch unsere Gewohnheiten gestört. Sobald Dopamin freigesetzt wird, passt sich das Gehirn daran an, indem es die Anzahl der stimulierten Dopaminrezeptoren reduziert bzw. „herunterreguliert“. Das führt dazu, dass sich das Gehirn wieder in die Homöostase bringt, indem es auf die Schmerzseite kippt. Auf das Dopamin-High folgt in der Regel der Kater und es dauert eine Weile, bis wir wieder im Gleichgewicht sind. Dieses Gleichgewicht erreichen wir allerdings nur dann, wenn wir nicht sofort wieder den nächsten Dopamin-Boost suchen. Sonst kommt es so weit, dass man auf diese kontinuierlichen Reize angewiesen ist. Nicht deshalb, um sich gut, sondern um sich nicht deprimiert zu fühlen. Ein Teufelskreis.
„Es ist wichtig, virtuellen Einflüssen reale Erlebnisse entgegenzusetzen“, findet auch Kathrin Sevecke. Das ist mitunter nicht so einfach, wenn einem der derzeitige Zustand der Welt kaum tragbar erscheint. Es lohnt sich, sich diesen Ängsten zu stellen: Tief durchatmen, frische Luft schnappen, Geräte weg, das hilft dabei, ins Gleichgewicht zu kommen. Nur so bleibt gewährleistet, dass die Digitalisierung mit all ihren dynamischen Entwicklungen in maßvoller Dosierung auch weiterhin Spaß machen kann und ein guter Raum bleibt, um sich eine Auszeit vom Alltag zu gönnen.
Text: Marian Kröll