Das Atemberaubende hat es so an sich, dass es in seiner Beschreibung nach dem Superlativ verlangt. Und tatsächlich kann es dem natursensiblen Beobachter in der klaren Luft des Nationalpark Hohe Tauern schon einmal den Atem verschlagen ob der Schönheit und vor allem Vielfalt der Landschaft, die sich hier auf verhältnismäßig kleinem Raum begehen, besichtigen und unmittelbar mit allen Sinnen erfahren lässt. Wer einen Hauch von Tibet sucht, findet ihn hier, genauso wie eine Antarktis en miniature oder eine bizarre Mondlandschaft, und sogar für ein bisschen Südseefeeling ist der Nationalpark Hohe Tauern gut. Das klingt weit hergeholt, liegt aber doch so nah.
Tibetisches Hochlandflair.
Die Jagdhausalm im Osttiroler Defereggental liegt auf 2.009 Metern Seehöhe und wird gerne als „Klein Tibet“ bezeichnet. Zurecht. Sie gehört zu den ältesten Almen Österreichs, besteht aus 16 Steinhäusern und einer Kapelle, die allesamt unter Denkmalschutz stehen. Die Alm ist aber mitnichten ein Museum, sondern ein lebendiges Zeugnis jener typischen Almwirtschaft, die in Osttirol noch vielerorts betrieben wird und welche die Kulturlandschaft entscheidend geprägt hat. Auf der im Jahr 1212 erstmals urkundlich erwähnten Jagdhausalm, die eine Gesamtfläche von 1.750 Hektar umfasst, werden zwischen Juni und September rund 350 Stück Rinder gealpt. Die Jagdhausalm versetzt einen in das Flair des tibetischen Hochlands. Sie ist einerseits Teil der kleinen Weltreise, die man im Nationalpark unternehmen kann, zum anderen eine Zeitreise in längst vergangen geglaubte Tage und ein kleines Stück heiler Welt, das Bräuche und Traditionen hochhält – kurzum ein echtes Juwel, das es zu bewahren und behutsam weiterzuentwickeln gilt.
Fußläufig ist die Alm in gut zwei Stunden vom Alpengasthof Patsch erreichbar und auch Radfahrer können die Jagdhausalm im Wortsinn erfahren. Sie ist trotz ihrer Schönheit ein Idyll geblieben, das vom Massentourismus verschont blieb. In unmittelbarer Nähe ist übrigens ein echter Kraftplatz zu finden: Das Pfauenauge, ein mit Großseggen umwachsener, kleiner Bergtümpel von wahrlich mystischem Aussehen.
Der weltalten Majestät zu Füßen.
Bekanntermaßen ist der Südpol touristisch nicht erschlossen und einigermaßen unwirtlich. Osttirol ist die Antithese dazu: Gut erschlossen, dabei aber nicht überlaufen, und durchaus wirtlich, das heißt authentisch gastfreundlich.
Wer würde ahnen, dass sich hoch oben in den Dachregionen des Nationalparks, südwestlich des weltalt-majestätischen Großvenediger eines der größten und eindrucksvollsten Gletscherplateaus der Ostalpen verbirgt? Gewaltige Eismassen dominieren das Sichtfeld, windstill ist es dort selten, von Hitze ganz zu schweigen. Hier liegt gewissermaßen die Antarktis Osttirols, die rund um das Defereggerhaus zum Greifen nah wird. Wer sich dieses beeindruckende Plateau aus Schnee und Eis lieber aus der Ferne ansieht, kommt bei der wöchentlichen Rangererlebnistour am Gletscherweg Innergschlöss auf seine Kosten.
Die Gletscher sind in den Alpen am Rückzug. Noch gibt es rund 150 Quadratkilometer davon im Nationalpark Hohe Tauern. Ob man sie nun als Gletscher, Ferner, Kees oder Firn bezeichnet, der Blick auf die imposanten, uralten Eismassen ist eindrucksvoll und regt zum Nachdenken an. Die eiskalten Giganten verlieren im Zuge des sich beschleunigenden Klimawandels kontinuierlich an Masse. In manchen Jahren mehr, in anderen etwas weniger. Noch kann man ihre vorübergehende Pracht bestaunen, etwa am Umbalkees am Ursprung der Isel, am Schlatenkees am Fuße des Großvenedigers oder am Teischnitz- und Ködnitzkees am Fuße des Großglockners und am von mehreren 3.000ern eingefassten Rainer- und Mullwitzkees in Prägraten am Großvenediger.
Höchstgelegenes Südseegefühl.
Wer die die Dabaklamm im Kalser Dorfertal durchquert, auf den wartet eine ganz spezielle Überraschung. Der an den Flanken der Granatspitze gelegene Dorfersee liegt auf 1.935 Metern Seehöhe und färbt sich – obwohl von milchig-weißem Gletscherwasser gespeist – in den warmen Sommermonaten tiefblau-türkis und ist eine echte Augenweide. Die Umgebung lässt allerdings nicht vergessen, dass man sich im alpinen Gelände befindet, weshalb statt Flip-Flops weiterhin festes Schuhwerk angesagt ist.
Osttiroler Mondlandschaft.
Beinahe außerirdisch wird die Weltreise im Nationalpark Hohe Tauern, wenn man sich zwischen dem Kals-Matreier-Törlhaus und der Sudetendeutschen Hütte auf dem gleichnamigen Höhenweg bewegt. Dort, westlich der Kendlspitze, gehen sattgrüne Bergwiesen fast schlagartig in ödes, eintöniges Graubraun über. Plötzlich findet man sich in einer wüstenartigen Landschaft wieder, die in ihrer Kargheit genauso gut am Erdtrabanten liegen könnte. Dürrenfeld heißt die bizarre Urlandschaft, die nach rund einer Stunde hinter der Dürrenfeld Scharte ebenso plötzlich wieder aufhört und der gewohnten alpinen Flora weicht, wie sie aufgetreten ist.
Herzfluss à la Yukon.
Die Isel ist einer der letzten frei fließenden Gletscherflüsse der Alpen und als solcher bahnt sie sich auch heute noch abwechslungsreich und beinahe ungehindert auf 54 Kilometern Länge ihren Weg zwischen ihrem Ursprung am Gletschertor des Umbalkees bis in die Bezirkshauptstadt Lienz, wo sie in die kleinere Drau einmündet. Seit 2020 kann man den Herzfluss der Osttiroler in seiner ganzen Pracht am Iseltrail erfahren, einem Weitwanderweg, der den Fluss in all seinen Facetten zwischen Menschenwelt und Wildnis zeigt. Die Isel unterliegt als Gletscherfluss starken jahreszeitlichen Schwankungen und zeigt sich je nach Witterung, Tages- und Jahreszeit von ganz unterschiedlichen, aber immer reizvollen Seiten.
(Nat)Urwälder pur.
Der Borkenkäfer frisst sich derzeit durch Osttirols Fichtenmonokulturen und richtet dabei große Schäden an. Den Wäldern im Nationalpark Hohe Tauern geht es besser, sind sie doch älter und naturbelassener als die umliegenden Wirtschaftswälder. Hervorzuheben sind neben dem Zedlacher Paradies, ein 600 Jahre alter, lichter Lärchen-Bergwald im Virgental, besonders die Naturwaldreservate Oberhauser Zirbenwald und der Ochsenwald im Gschlösstal, die beide von der Zirbe dominiert sind. Diese ist ein sehr langsam wachsender Baum, der bis zu 1.000 Jahre alt werden kann. Der Oberhauser Zirbenwald in St. Jakob im Defreggental ist der größte zusammenhängende Zirbenwald der Ostalpen und ein ganz besonderes Erlebnis, das Ehrfurcht vor dem Ökosystem Wald einflößen kann.
Text: Marian Kröll
Foto: NPHT / Andreas Steinacher
Aus: Tirol Magazin Sommer 2023