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Life

Antiperfekt

1.3.2024

Die Japaner haben ein ganz wunderbares Konzept. Jenes des Wabi Sabi nämlich, das im Groben jenen Gedanken beschreibt, Schönheit in jedem Aspekt der Unvollkommenheit der Natur zu finden. Es geht um die Ästhetik des perfekt Unperfekten. Als Wohnstil ist der Entwurf bereits in unsere Breiten geschwappt, wir finden, die Lehre hat Potenzial, sich über unser ganzes Dasein auszubreiten. Lasst uns viel öfter dem Wabi-Sabi-Leben frönen!

Die Zu-Gesellschaft

Wir leben in einer Zeit, in der wir in irgendeiner Weise immer „zu“ etwas sind: zu alt, zu jung, zu dick, zu dünn, zu groß, zu klein, zu schüchtern, zu dominant, zu schlau, zu naiv, zu behaart (unter den Achseln), zu wenig behaart (am Kopf), zu weiblich, zu männlich. Kein Wunder, dass Körper und Geist irgendwann zu-machen.

Von klein auf wird uns eingeredet, eine ständig bessere – und schönere – Version von uns selbst zu werden. Wir haben begonnen, unser gesamtes Leben mit Trackern, Apps, Fitnessarmbändern und Smartwatches zu messen. Und dabei eines aus den Augen verloren: uns. Die so genannte Quantified-Self-Bewegung kommt – man mag’s fast erahnen – aus den USA. Ursprünglich wurde die Methode für den Sport entwickelt, um die eigenen Körperfunktionen mittels technischer Geräte zu messen. Mittlerweile messen wir faktisch alles, was sich irgendwie messen lässt, von den zurückgelegten Schritten über das Stresslevel bis dahin, wie gut wir geschlafen haben. Und wir teilen das Ganze munter via Social Media mit der ganzen Welt. Ganz abgesehen davon, dass man sich die Frage stellen muss, was mit all diesen Daten passiert, hat unser Vermessungswahn auch negative Auswirkungen auf unser Körperbewusstsein. Es scheint paradox: Je mehr wir von uns messen, desto weniger kennen wir uns selbst.

Unser gesamtes Leben, unser Tun und unser Körper scheinen heute unter ständigen Standardvorgaben gemessen und beurteilt zu werden. Uns wird vorgeschrieben, wie viele Schritte wir am Tag zurückzulegen haben, was Erfolg bedeutet und als schön gilt. Wir bekommen eine To-do-Liste für unseren Körper und unser Leben, um in eine Gesellschaft zu passen, die doch vermeintlich das Individuum in den Mittelpunkt stellt. Brustvergrößerungen sind gut, weil sie einer ästhetischen Norm entsprechen und in die Vorstellung von Schönheit passen, blau tätowierte Augäpfel sind böse, weil sie Andersartigkeit ausdrücken und sich außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung bewegen. So zu sein, wie man aus seinem Inneren heraus ist, ist folglich oft viel anstrengender, als nach außen eine zugedachte Rolle zu spielen. Das führt dazu, dass heute zwar jeder individuell und speziell sein möchte, gleichzeitig aber geraten wir in eine Uniformität, die uns jegliche persönliche Entfaltung nimmt. Der Gesellschaft vollumfänglich gefallen zu wollen, geht folglich mit dem Verlust eines großen Teils unserer Eigenbestimmung einher. Wir sind stets damit beschäftigt, den Kriterienkatalog, der über uns gestülpt wird, zu erfüllen, und vergessen dabei auf unsere eigenen Wünsche und Bedürfnisse.

Die Crux ist: Wenn man permanent jemand sein muss, der man eigentlich nicht ist, wird man nie wirklich zufrieden sein. Indem uns ständig gesagt wird, was wir (an uns) verbessern und optimieren können, impliziert das gleichzeitig, dass etwas an uns nicht gut ist. Dass die Themen Selfcare, Selbstfürsorge, Selbstliebe und Achtsamkeit oder wie immer man sie betiteln möchte, aktuell derart großen Zuspruch erfahren, kommt nicht von ungefähr. Weil irgendwann der Punkt erreicht ist, an dem all das zu viel wird. Nun ist die Sache die: Um uns selbst können auch nur wir selbst uns kümmern. Und weil wir es vielfach gewohnt sind, für alles (technische) Helfer zu haben, ist es gar nicht so einfach, komplett auf sich selbst zurückgeworfen zu werden und herauszufinden, wer man ist und was man wirklich will. Die Beschäftigung mit sich selbst mögen tatsächlich die wenigsten, vermutlich auch aus Sorge davor, was man tief in sich finden könnte und dabei zur Erkenntnis gelangt, doch nicht so glücklich zu sein, wie man dachte, oder das Leben zu leben, das man möchte. Das nämlich würde Veränderungen nach sich ziehen (müssen). Die mögen allerdings noch weniger Menschen, weil es in der Komfortzone halt doch recht kuschelig ist.

Take a break

Selfcare als Methode zu sehen, um sich im Rosenbad mit Gurkenmaske auszuruhen, um anschließend wieder wie gewohnt funktionieren zu können, ist der verkehrte Ansatz. Selfcare ist Arbeit – dahingehend, sich selbst so viel Wert und Raum zuzugestehen, um sich nicht mehr von äußeren Bewertungen, Befindlichkeiten und Normen abhängig zu machen, und sich selbst auch jenen Respekt zollen, den wir in der Regel all jenen in unserem Umfeld entgegenbringen. Es ist nicht egoistisch, sich selber in den Mittelpunkt zu stellen. Es ist höchst notwendig. Wir müssen nicht immer etwas müssen, wir dürfen auch einfach nur wollen.

Das findet auch RELAXROOM-Betreiberin Claudia Wopfner. Sie beschäftigt sich aktuell sehr stark mit dem Thema Antiperfektionismus, weil sie in ihrem Massagestudio im wahrsten Sinne spürt, wie sehr Menschen in erster Linie Getriebene sind. Sie hat ihr Massageangebot deshalb bewusst reduziert und den Fokus auf das Thema Erholung und Entspannung gelegt – weil es eben nicht immer darum gehen muss, etwas zu leisten, sondern sich einfach einmal hinzugeben und fallenzulassen, die Verantwortung abzugeben und die Ruhe zu genießen. „Ich habe in das RELAXROOM-Treat-ment alles hineingesteckt, was beruhigend wirkt. Das Einzige, was meine Kundinnen und Kunden wirklich brauchen, ist Zeit und die Möglichkeit, wieder bei sich selbst anzukommen. In diesen 50 Minuten möchte ich ihnen das Gefühl geben, dass alles gut ist. Dass SIE gut sind, wie sie sind. Das ist für mich Selfcare. Wenn man alles einer Agenda unterordnet und stetig Ziele verfolgt, ohne dass diese sich von innen heraus entwickeln können, dann geht sich das irgendwann nicht mehr aus – nicht für den Körper, nicht für den Geist und nicht für die Gesellschaft als Ganzes. Ich möchte dazu einladen, sich selbst die Erlaubnis zur Langsamkeit und zum Nichtstun zu geben und zumindest für eine kurze Zeit nichts darauf zu geben, was andere von einem denken und erwarten. Im besten Fall hallt dieses Gefühl noch lange nach.“

Beim Sport ist Regeneration ebenso wesentlicher wie selbstverständlicher Teil der Leistung. Warum nicht auch im Leben? Nichtstun ist Qualitätszeit und hat nichts mit Faulheit zu tun. „Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hinzuschauen“, diagnostizierte dereinst schon die großartige Astrid Lind-gren. Und auch Loriot empfand das Rumsitzen als durchaus anspruchsvolle Tätigkeit. Wenn einem aus seinem tiefsten Inneren heraus egal ist, was andere über einen denken, hat man vermutlich die höchste Stufe der Zufriedenheit erreicht.


Text: Marina Bernardi
Fotos: Magdalena Gallé / EVITA AGENCY

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