Mit der Rückkehr des russländischen Imperialismus, der sich nicht nur im völkerrechtswidrigen Einmarsch in die souveräne Ukraine manifestiert hat, sondern zunehmend auch in Sabotageakten auf europäischem (Meeres-)Boden, hat sich dramatisch gezeigt, dass das europäische Energiesystem mit seinem Fokus auf billiges russisches Öl und Gas auf tönernen Beinen steht. Auch im Zusammenhang mit dem voranschreitenden Klimawandel zeigt sich deutlich, dass Europa eine neue Energiestrategie braucht. Eine, die dem wirtschaftlich zuletzt ins Hintertreffen geratenen alten Kontinent neues Leben einhaucht. In Tirol hat man sich schon vor Jahren intensiv Gedanken darüber gemacht und die Strategie TIROL 2050 energieautonom formuliert. „Tirol hat zum Ziel, bis 2050 unabhängig von fossilen Energieträgern zu sein. Die nächsten Generationen sollen künftig in der Lage sein, ihren gesamten Energiebedarf aus heimischen, erneuerbaren Ressourcen klimaschonend zu decken“, heißt es darin.
Ambitionierte Ziele
Das Ziel ist vorgegeben, es lässt an Ambition nicht zu wünschen übrig und stellt die Energiewende als alternativlos dar. „Kaum jemand zweifelt an der Notwendigkeit der Energiewende. Am vehementesten eingefordert wird sie oft von denjenigen, die dann am lautesten gegen Projekte der Energiewende protestieren, gegen Großwasserkraft auftreten, Windräder an alpinen Standorten anprangern, Holz zwar toll finden, aber kein Fernheizwerk in der Umgebung haben wollen“, heißt es in Josef Geislers Vorwort zum 2024 aktualisierten Energie-Zielszenario. Der Landesrat spielt damit auf die – wohl nicht nur in Tirol, sondern fast überall – ausgeprägte NIMBY-Mentalität der Bevölkerung an. Energiewende ja bitte, aber not in my backyard. „Das ist ein verbreitetes Phänomen, das sich nicht nur auf Tirol beziehen lässt. Man muss die Menschen da abholen, wo sie sind, und die Rahmenbedingungen entsprechend schaffen, dass sie dieses Projekt mittragen können“, sagt der assoziierte Professor Fabian Ochs von der Universität Innsbruck. Der Energieexperte forscht und lehrt im Arbeitsbereich Energieeffizientes Bauen. Die Frage, ob es eine Energiewende braucht, stellt sich für ihn nicht, sondern lediglich die, wie eine solche zu bewerkstelligen ist. „Der Begriff Energiewende ist vielleicht etwas irreführend, weil man glauben könnte, dass er sich nur auf die Art und Weise, wie Energie bereitgestellt wird, bezieht“, räumt Ochs ein. „Nur die Energiequellen umzustellen und dabei zu glauben, dass wir in allen Bereichen so weitermachen können wie bisher, wird nicht funktionieren.“ Die Folgen eines ungemilderten Klimawandels würden alle Anstrengungen einer Energiewende weit in den Schatten stellen, ist sich der Wissenschaftler sicher.
Wer heutzutage von Verzicht spricht, kann politisch gleich einpacken. An der Wahlurne wirkt das höchst zuverlässig toxisch. Die Menschen wollen in der Gewissheit leben, dass alles seinen gewohnten Gang gehen kann. „Man kann den Menschen den gewohnten Komfort – und ein gutes Leben – nicht wirklich wieder nehmen wollen. Dieser Komfort muss zukünftig aber mit möglichst geringem Energie- und Materialaufwand und möglichst nachhaltig bereitgestellt werden“, formuliert Ochs seine diesbezüglichen Gedanken. Der Nachhaltigkeit nähert er sich gern über die Begriffe Effizienz, Suffizienz und Konsistenz. „Diese drei Hebel müssen zusammenspielen. Auf einen allein zu setzen, ist sicher keine Lösung.“ Im Kontext der Effizienz scheint es auch angezeigt, über das sogenannte Jevons-Paradox zu reden: Es beschreibt ein Phänomen aus der Ökonomie, bei dem technologische Fortschritte, die die Effizienz einer Ressourcennutzung erhöhen, paradoxerweise zu einem Anstieg des Gesamtverbrauchs dieser Ressource führen können. Das Paradoxon ist relevant für Debatten über Nachhaltigkeit und Klimapolitik. Es zeigt, dass reine Effizienzsteigerungen ohne begleitende Regulierung oder Verhaltensänderungen oft nicht ausreichen, um Ressourcenverbrauch oder Emissionen zu senken. Fabian Ochs ist mit dem sogenannten Rebound-Effekt vertraut und meldet Zweifel an: „Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass Effizienzmaßnahmen zu Energieeinsparungen führen. Nehmen wir als Beispiel die Elektromobilität, die für die Dienstleistung – jemanden von A nach B zu bewegen – deutlich weniger Energie braucht als ein Fahrzeug mit Verbrennungsmotor.“
Fortschrittsrealismus
Der Mensch neigt dazu, sich vieles einfacher vorzustellen, als es in der Realität tatsächlich ist. Schrankenloser Fortschrittsoptimismus scheint im Kontext der Energiewende jedenfalls nicht geboten. Manches, das derzeit zur Bewältigung der globalen Klimakrise vorgesehen ist, ist nämlich im großtechnischen Maßstab ganz einfach noch keine Option. Bei der immer wieder genannten CO2-Abscheidung und -Speicherung ist es ungewiss, ob sich das jemals in der angedachten Dimension wirtschaftlich darstellen lässt und/oder technologisch überhaupt funktioniert. Geht man davon aus, dass es neue, noch längst nicht marktreife Technologien schon irgendwie richten werden können, stellt man ungedeckte Schecks auf die Zukunft aus. „Wenn man von Zukunftstechnologie ausgeht, die unendlich viel grüne und nachhaltige Energie zur Verfügung stellen können wird, dann verschwindet bei jedem Einzelnen die Notwendigkeit, selbst ins Handeln zu kommen“, formuliert Ochs den mit Technologiegläubigkeit einhergehenden Motivationsverlust. „Man verschiebt das Problem woanders hin. Wundertechnologien wird es nicht geben. Es wird auch nicht reichen, einfach auf die Fusion zu warten.“ Dennoch sei es sinnvoll, an neuen Lösungen zu forschen.
Die Tiroler Energie(spar)ziele sind ambitioniert und nicht immer erreichbar, wie auch aus dem aktualisierten Energie-Zielszenario hervorgeht: „Da sich gegenüber der Vorgängerstudie des Jahres 2021 gezeigt hat, dass die bisher angesetzten Effizienzsteigerungen im Gebäudebereich realistischerweise nicht erreicht werden können, wird nun für das Jahr 2050 ein gestiegener Endenergiebedarf im Sektor Sonstige/Gebäude erwartet“, heißt es dort. „Es wurden sehr ambitionierte Annahmen für den Gebäudebereich getroffen, dahingehend, dass alle Neubauten im Passivhausstandard gemacht werden und viel mehr saniert wird“, erklärt Ochs. Diese Annahmen wurden mittlerweile durch realistischere ersetzt. „Technisch ist es durchaus möglich, in diesen Zielbereich zu kommen, auch im ursprünglichen Szenario, aber das ist natürlich mit einem hohen finanziellen Aufwand verbunden, der sich aber über den Lebenszyklus der Gebäude durchaus lohnen würde“, führt Ochs aus, der sich beim Baustoff der Wahl nicht festnageln lassen will. „Holz ist sicher dort, wo ausreichend vorhanden, ein guter Baustoff. Ich würde das aber nicht so eng sehen, weil auch Betonbauten mit sehr langer Nutzungsdauer und kreislaufwirtschaftlicher Weiterverwendung durchaus überzeugen können. Das Hauptthema, das wir im Gebäudebereich derzeit immer noch haben, ist die Betriebsenergie, nicht die Rohstoffe. Es ist deshalb wichtiger, die Betriebsenergie auf ein Minimum zu reduzieren, anstatt den Fokus zu viel auf den Baustoff zu richten.“ Ochs verweist außerdem auf ein Manko in der derzeitigen Debatte: „Wir sollten den Gebäudesektor als Säule der Energieversorgung betrachten. Erzeugung und Verbrauch machen miteinander das Energiesystem aus, nicht nur die Erzeugung. Wer bei der Energiewende nur die Erzeugung im Blick hat, vergisst ein wichtiges Element. Der Gebäudebereich ist ein Hebel, der in die Gesamtbetrachtung einbezogen werden muss.“
More and more and more
Nicht nur darüber, wie die Energiewende denn zu bewerkstelligen sei, gibt es unterschiedliche Auffassungen, sondern auch darüber, ob wir beim Konzept Energiewende nicht einem großen historischen Missverständnis oder Irrtum unterliegen. Letzteres legt die Forschung des französischen Wissenschafts- und Energiehistorikers Jean-Baptiste Fressoz dringend nahe, die jüngst auf Englisch in Buchform unter dem Titel „More and More and More – An All-Consuming History of Energy“ erschienen ist. Das darf als Leseempfehlung gelten, zumal Fressoz’ Argumentation schlüssig und folgenreich erscheint.
Für Tirol ist es ein wichtiges – und prinzipiell erreichbares – Ziel, zumindest bilanziell energieautonom zu werden. Dafür gibt es im Land ausreichend erneuerbare Ressourcen, Wasser, Sonne und auch Wind. Generell sollte aber das Ding, das im globalen Maßstab gewendet werden soll, die Energie, auch global betrachtet werden. Der Klimawandel ist schließlich kein regionales Phänomen. Wir sitzen alle im selben Boot, beim Klima ebenso wie beim globalen Rohstoff- und Energieverbrauch. Jean-Baptiste Fressoz erzählt die Energiegeschichte neu und argumentiert, dass wir es nicht mit der Ablösung eines Energieträgers durch einen anderen, sondern vielmehr mit einer symbiotischen Expansion verschiedener Energieträger (Holz, Kohle, Öl, Gas…) und einer Akkumulation derselben zu tun haben. Primärenergiequellen, meint Fressoz, neigten historisch dazu, einander zu ergänzen statt zu ersetzen. Aus seiner Sicht ist die Energiewende daher nicht mehr als ein industrieller Slogan, der seit mehr als 50 Jahren für wissenschaftliche Verwirrung und politische Prokrastination sorgt. Die vermeintliche Dekarbonisierung Europas beschreibt Fressoz als „statistisches Artefakt“, weil die CO2-Emissionen den produzierenden Ländern angerechnet werden und nicht den konsumierenden. „Da ist etwas dran. Wandert die Stahlproduktion aus Europa ab, haben wir sie nicht mehr in der Bilanz, aber die Länder, in die sie abwandert. Ich halte es auch für einen Fehler, die Produktion zu bilanzieren und nicht den Verbrauch“, schließt sich Ochs in diesem Punkt Fressoz’ Sichtweise an. Nach zwei Jahrhunderten der „Energiewende“ habe die Menschheit noch nie so viel Öl und Gas, so viel Kohle und so viel Holz verbrannt wie heute, schreibt Fressoz. Holz stelle derzeit global doppelt so viel Energie zur Verfügung wie die Atomkraft. Merkels Deutschland verbrauchte dreimal so viel Kohle wie Bismarcks. Das sind nur einige aus einer ganzen Sammlung an Indizien, die darauf hindeuten, dass wir möglicherweise das Konzept der Energiewende in seiner bisherigen Ausformung – neue, saubere Energiequellen lösen die alten, schmutzigen ab – hinterfragen müssen.
Was könnten die möglichen Schlussfolgerungen sein, wenn die Energiewende weitgehend Wunschdenken ist? Die Energiewende, argumentiert der Historiker in seinem Buch, sei ein Begriff der Futurologen und nicht der Historiker. Um einen klareren Blick auf eine mögliche Energiezukunft zu bekommen, muss man sich womöglich von einem Zerrbild verabschieden, das so – historisch nachweislich – nicht stattgefunden hat. Die globale Erwärmung beschreibt Jean-Baptiste Fressoz eher als „eine Tragödie des Überflusses als der Knappheit, eine Tragödie, die umso hartnäckiger und ungerechter ist, als ihre Opfer im Allgemeinen nicht dafür verantwortlich sind. Die Bekämpfung der globalen Erwärmung bedeutet eine beispiellose Umgestaltung der materiellen Welt durch schiere Willenskraft, und das in einem außerordentlich kurzen Zeitraum.“ Die Behauptung, dass „Innovation“ – sei sie inkrementell, granular, grün, sparsam oder disruptiv – dieser beispiellosen Herausforderung gewachsen ist, sei nur Schall und Rauch, so das ernüchternde Urteil des französischen Historikers. Er will der gängigen Erzählung von der Energiewende etwas entgegensetzen. Anpassung sei der Schlüssel, um den Auswirkungen des Klimawandels zu begegnen. „Wir müssen über Suffizienz und Degrowth sprechen“, sagt Fressoz in einem Interview. Diese Themen seien von Ökonomen bisher völlig vernachlässigt worden. Und dieser Eindruck täuscht nicht. Mit Degrowth bzw. Postwachstum – grundsätzlich heißt das, dass die Wirtschaft nicht mehr wächst, sondern sogar schrumpft – will sich niemand ernsthaft befassen. Fabian Ochs ist jedenfalls dafür, dass sich Tirol – wie ganz Österreich – weiterhin und mehr denn je anstrengt. „Wenn kleine Länder nichts tun, fällt das nicht groß auf, aber wenn sie vorangehen, werden sie wahrgenommen und können sogar Vorbildwirkung entfalten. Es ist für Österreich eine wichtige Aufgabe, eine Vorreiterrolle einzunehmen.“ Vogel-Strauß-Politik will Fabian Ochs nicht sehen. Damit geht es ihm nicht anders als den meisten Österreicher*innen und wohl auch Tiroler*innen. Energieautonomie ist zudem ein Schlüssel, um den für das Land so wichtigen Industriestandort abzusichern und mit sicherer, sauberer und konkurrenzfähiger Energie neue Unternehmen ansiedeln zu können. „Sich hinzustellen, mit den Schultern zu zucken und nichts zu tun, ist sicher nicht der richtige Weg“, sagt Ochs. Wer handelt, kann dabei Fehler machen, wer nichts tut, macht ganz sicher einen Fehler.
Text: Marian Kröll