Der Ungerechtigkeiten gibt es viele, manche davon wirken gleichzeitig, so dass es wohl kaum jemanden gibt, dem keine davon momentan widerfährt. Wer sich keiner Ungerechtigkeit gegenübersieht, hat keinen Puls. Es ist nicht einfach auszumachen, was davon nun gerechtfertigterweise als Ungerechtigkeit gelten kann und was der Wehleidigkeit geschuldet ist. Gerechtigkeit ist standortabhängig. Was dem einen als gerecht gilt, kann dem nächsten schon höchst ungerecht vorkommen.
Gerechtigkeit ist subjektiv
Gerechtigkeitstheorien gibt es fast wie Sand am Meer, die bedeutendsten Denker der Menschheitsgeschichte sind sich uneins über das Wesen der Gerechtigkeit. Und am Stammtisch ist Gerechtigkeit überhaupt eine Empfindung, deren Mangel sich meist als Empörung lauthals Bahn bricht und nicht selten damit zu tun hat, dass ein anderer mehr von etwas bekommen hat, als ihm nach eigenem Dafürhalten zustünde. Dafür dürfen die heißen Debatten um die COVID-19-Wirtschaftsförderungen als beredtes Beispiel dienen. Das meiste Wehklagen entsteht nicht etwa dadurch, dass man selbst zu wenig gefördert worden sei, sondern durch die gefühlte Überförderung der anderen.
Eine Art rudimentärer Gerechtigkeitssinn entwickelt sich schon bei Kleinkindern, denen es vor allem darum geht, dass niemand anderes ein größeres Stück vom Kuchen bekommt als man selbst. Normalerweise entwickelt sich mit dem Heranwachsen ein differenzierterer Gerechtigkeitssinn, bei manchen scheint er aber auf dem Ausgangsniveau zu verharren. Jeder kennt das nagende Gefühl der Verbitterung, das sich einstellt, wenn man glaubt, ungerecht behandelt worden zu sein. Es ist eine normale Regung, die aber sehr wohl Probleme machen kann, wenn sie nicht wieder abklingt. Anhaltende Verbitterung kann krankhafte Züge annehmen.
Emil Kraepelin widmete dem bereits 1915 ein ganzes Kapitel, schwere Verbitterung bezeichnete er in seinem Lehrbuch „Psychiatrie“ als „Querulantenwahn“. Verbitterte Menschen, heißt es darin, seien nach Konflikten mit Familienmitgliedern, Nachbarn oder auch Behörden besessen von dem Wunsch, Gerechtigkeit wiederherzustellen. Darüber vernachlässigten sie alle anderen Lebensbereiche. Das hat Psychoanalytiker Franz Alexander in den 1960er-Jahren als masochistische Abwehrreaktion beschrieben, weil die Verbitterung den Betroffenen selbst am meisten schade. Analog zur durch Angst verursachten posttraumatischen Belastungsstörung gibt es eine posttraumatische Verbitterungsstörung, die unter anderem durch eine empfundene Ungerechtigkeit ausgelöst werden kann und sogar behandlungsbedürftig ist. Verbitterung ist ein zunehmendes, wenn auch unterschätztes gesellschaftliches Phänomen, das mit einem zunehmenden Mangel an empfundener Gerechtigkeit einhergehen dürfte. Wie es um die tatsächliche, objektive Gerechtigkeit bestellt ist, lässt sich ohnehin nicht feststellen. Das, was als gerecht empfunden wird, hängt immer auch mit dem gesellschaftlichen Verhältnis zusammen. Bei Menschen, die zur Ingroup gehören, zu den „Eigenen“, ist man viel sensibler für Ungerechtigkeiten als bei der Outgroup, den „Anderen“. Menschen aus demselben Milieu haben überdies oft eine ganz ähnliche Auffassung von Gerechtigkeit. Eine allgemeingültige Vorstellung existiert indes nicht.
Gerechtigkeit im Wandel der Zeit
Um sich dem Thema zu nähern, könnte man am Anfang anfangen, oder zumindest bei A wie Aristoteles. Schon in der griechischen Antike ging es unter den Philosophen heiß her. Gerechtigkeit wurde damals als Teil der natürlichen oder gottgegebenen Ordnung aufgefasst. Gerechtigkeit wurde als Tugend angesehen, unter deren Zuhilfenahme man sich den Weg zum Glück ebnen könne. Sie war folglich eine Charaktereigenschaft und kein Zustand. Die alten Römer, allen voran Cicero, begannen damit, Gerechtigkeit stärker als Maß an die gesellschaftliche Ordnung und das kodifizierte Recht anzulehnen. Als gerecht galt, was rechtens war. Bis ins späte Mittelalter hinein dominierten schließlich christliche Perspektiven den Diskurs über die Gerechtigkeit. So war diese eine Zeitlang nur über die Gnade Gottes zu erlangen. Erst in der Neuzeit wurde Gott in der Gerechtigkeitsdebatte langsam ins Ausgedinge geschickt, Thomas Hobbes und Co. entwickelten auf Basis eines Naturrechts – das ist die Vorstellung eines universell gültigen Ordnungsprinzips, nach dem die Normen des menschlichen Zusammenlebens sich aus der Natur des Menschen begründen ließen – verschiedene Vorstellungen eines Gesellschaftsvertrages, die bis heute fortwirken.
David Hume und Immanuel Kant konnten damit herzlich wenig anfangen. Kant entwickelte daher als Gegenentwurf zum Naturrecht das Konzept des Vernunftrechts. Als Lackmustest für moralisches, das heißt gerechtes Handeln kann Kants kategorischer Imperativ dienen: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Weit älter noch ist die Goldene Regel, ein wertvoller Grundsatz der praktischen Ethik, der da schlicht und ergreifend heißt: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Im Utilitarismus, einer zweckorientierten Ethik, wurde der gesamtgesellschaftliche Nutzen in den Mittelpunkt gestellt und die Gerechtigkeit zur bloßen Rahmenbedingung degradiert. Dieser von Jeremy Bentham geprägte Zugang geht davon aus, dass alle Menschen nach Vergnügen und Wohlbefinden streben und Unglück vermeiden wollen. Das macht Handlungen, die für Wohlergehen sorgen, moralisch richtig. Maßstab ist dabei niemals allein das eigene Glück, sondern auch das der anderen.
Die Libertarianer, die vor allem im angelsächsischen Raum ihren Einfluss entfaltet haben, gehen vom Grundsatz aus, dass das höchste Gut des Menschen dessen Freiheit ist. Dementsprechend sind den Vertretern dieser Strömung – allen voran Friedrich Hayek und Milton Friedman – Eingriffe in den freien Markt ein Graus, ebenso wie Steuern, Sozialabgaben oder eine gesetzliche Krankenversicherung. Das ist mit dem Wohlfahrtsstaat nach europäischem Zuschnitt freilich nicht kompatibel. Zudem neigt, wie die Erfahrung zeigt, der freie, völlig ungezügelte Markt dazu, dysfunktional und verantwortungslos zu werden. Fortan war man in gelehrten Kreisen von Nietzsche über Marx bis hin zu Derrida jedenfalls überwiegend der Auffassung, dass Gerechtigkeit sich nicht aus irgendeinem höheren Prinzip herleiten lässt. Die Befassung mit philosophischen Positionen zur Gerechtigkeit ist keine vergebene Liebesmüh, schärft diese doch unser Gerechtigkeitsempfinden. Wenn man weiß, auf welchen Prämissen die eigene Einstellung zur Gerechtigkeit fußt, lässt sich besser nachvollziehen, warum man etwas als gerecht oder ungerecht empfindet.
Theoretisch gerecht
Der einflussreiche US-Philosoph John Rawls legte 1971 in Buchform „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ vor. Er skizziert darin eine sozial-politische Grundordnung, die auf Gleichheit basiert, und damit einen Gegenentwurf zum Utilitarismus, der die Schädigung Einzelner für das Gemeinwohl der Gesellschaft in Kauf nimmt. Rawls formuliert zwei Grundsätze der Gerechtigkeit. Der erste lautet: „Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.“ Der zweite geht so: „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.“ Anhand dieser Prinzipien entwickelt Rawls sein Konzept der Verfahrensgerechtigkeit, das Gesetze zur Grundlage der Entscheidung macht, ob ein gesellschaftlicher Zustand als gerecht oder ungerecht betrachtet wird. Rawls realistisches Ideal einer „annähernd wohlgeordneten Gesellschaft“ hat seiner Gerechtigkeitstheorie zu einiger Praxisrelevanz verholfen, da sie einen tauglichen Maßstab für demokratische Gesellschaften, wie es die unsere (noch) ist, darstellt.
Wenn Rawls von Gerechtigkeit spricht, ist notabene die Verteilungsgerechtigkeit gemeint, und zwar konkret in Bezug auf gesellschaftliche Institutionen: „Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen.“ Im Gegensatz zu Hobbes Naturzustand, der von einem „bellum omnium contra omnes“, einem „Krieg aller gegen alle“ um knappe Ressourcen geprägt ist, nimmt Rawls die Gesellschaft als etwas an, das von Menschen mit gleichartigen Interessen konstituiert wird, gewissermaßen als Unternehmen gemeinschaftlicher Arbeit zum gegenseitigen Vorteil. Die Güterallokation findet durch die friedliche Findung einer für alle vorteilhaften Lösung statt. Dabei geht es aber nicht um Gleichmacherei. Unterschiede sind erlaubt, wie Rawls in seinem Differenzprinzip betont. Es erlaubt die Verbesserung der Aussichten der am besten gestellten Gruppe, wenn dadurch eine Besserstellung der am schlechtesten gestellten Gruppe erreicht wird. Anders formuliert: Selbst Ungleichheiten können gerecht sein, wenn sie auch denen zugutekommen, die am wenigsten haben.
Rawls stellt dazu auch ein Gedankenexperiment an, den „Schleier des Nichtwissens“ (veil of ignorance). Dieser hypothetische Schleier verdeckt alle Identitätsmerkmale – Geschlecht, Alter, Beruf, Einkommen – und nimmt an, dass umso fairer geurteilt wird, je weniger man über sich selbst und seine soziale Stellung weiß. Ein Beispiel aus der pandemischen Gegenwart: Wie hätte man in Sachen Coronamaßnahmen wohl entschieden, wenn man nicht wüsste, ob man über 65 ist, Vorerkrankungen hat oder Kinder, die zu Hause betreut werden müssen? Abstrahiert man von der eigenen Position, wirkt sich das unmittelbar auf das aus, was als gerecht empfunden wird. Neben viel Anerkennung hat Rawls naturgemäß auch eine ganze Reihe namhafter Kritiker auf den Plan gerufen, die seine Theorie in unterschiedlicher Qualität abgewatscht haben. Sie ist aber jedenfalls eine einflussreiche und praxistaugliche Auseinandersetzung mit diesem Thema, das niemanden unberührt lässt.
Tugend und Freiheit
Ganz allgemein lässt sich festhalten, dass die älteren Theorien zur Gerechtigkeit mit der Tugend beginnen, die modernen dagegen fangen mit der Freiheit an. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass im alltäglichen Hantieren mit dem Gerechtigkeitsbegriff auch die Tugend weiterhin eine wesentliche Rolle spielt, wie Harvard-Professor Michael J. Sandel in seinem einflussreichen Buch „Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun“, festhält: „Den auf Werturteilen beruhenden Wesenszug der Gerechtigkeit können wir nicht ganz abschütteln. Die Überzeugung, dass Gerechtigkeit sicher ohne Freiheit, aber eben auch ohne Tugend nicht zu haben sei, reicht tief. Wenn wir über Gerechtigkeit nachdenken, scheinen wir dadurch unausweichlich gezwungen zu sein, über die beste Lebensführung nachzudenken.“
Es gibt Schlechteres als einen solchen Nachdenkprozess. Der findet zum einen individuell in den Köpfen der Einzelnen statt, muss aber auch kollektiv ausgehandelt werden. Die Politik ist das Forum dafür. Sie hat in diesem Zusammenhang die Aufgabe, Gerechtigkeit zu befördern oder sie zumindest nicht zu behindern. Was gerecht ist, muss laufend neu verhandelt werden. Diese Form der Gerechtigkeit beruht nicht primär auf Tugend, sondern auf demokratischer Übereinkunft, die immer die Übereinkunft einer Mehrheit zulasten einer Minderheit ist, wie klein oder groß die Mehrheit auch immer sein mag. „Politik ist der Schmerz, der entsteht, wenn andere Leute anderes wollen“, hat das der Philosoph Peter Sloterdijk einmal in unnachahmlicher Manier formuliert.
Generell gibt es bei der Betrachtung von Gerechtigkeit drei Ideale, zwischen denen abzuwägen ist: Das allgemeine Wohl, die Freiheit und die Tugend. Es lässt sich nicht vermeiden, dass diese Ideale miteinander in Konflikt geraten. Sloterdijk sieht die Welt in einer Art Interregnum, in dem es um die Gerechtigkeit in globalem Maßstab nicht allzu gut bestellt ist. Und er stellt einen blumigen historischen Vergleich an: „Unsere Situation ähnelt jener Alt-Ägyptens in einem Intervall zwischen zwei Dynastien: Ein älteres pharaonisches Regime ist zerfallen, ein neues hat sich noch nicht etabliert, der Nil macht unterdessen, was er will, er überschwemmt die Landstriche, die Dörfer, die Tempel. Die Sitten verwildern, die Gerechtigkeit ist obdachlos. Der neue Pharao, der die Kunst besäße, Ströme zu lenken, muss erst geboren werden. Kurzum, uns fehlt eine neoägyptische Kanalisationskunde – in heutiger Sprache eine Global Governance –, und solange wir die nicht haben, werden wir von verwilderten psychopolitischen Energien geflutet, mit ungewissem Ausgang.“
Das ist nicht von der Hand zu weisen, gerade in einer Zeit, in der die Frage nach einer neuen Weltordnung gegenwärtig wieder einmal auch auf dem Schlachtfeld ausgemacht wird und die UNO handlungsunfähig zusehen darf. Globale Gerechtigkeit, die eine faire Verteilung von Ressourcen, Rechten und Möglichkeiten auf globaler Ebene einfordert, wird – so viel darf man vorwegnehmen – nicht am Ende dieser kriegerischen Auseinandersetzung stehen. Die Welt ist trotz multimedialer Überflutung eine Black Box, vor der man sich angesichts derart vieler sich wechselseitig bedingender und befruchtender Ungerechtigkeiten fast nur noch weltangeekelt wegdrehen kann.
Ungerechtigkeit wird es immer geben, die große Kunst besteht darin, sie möglichst „gerecht“ auf die supranationalen und intergouvernementalen Organisationen, Nationen und schließlich Individuen zu verteilen. Gerechtigkeit wird Stückwerk bleiben, eine auf ewig Unvollendete. Die entwickelten Demokratien können sich ihr weiterhin anzunähern versuchen. Es ist aber anzunehmen, dass das weiterhin auf Kosten der ärmeren Länder im Globalen Süden geschehen wird.
Generationenfrage Gerechtigkeit
Gerechtigkeit ist aber nicht nur etwas, was global zwischen den verschiedenen Weltgegenden mit ihren völlig unterschiedlichen Voraussetzungen angestrebt werden sollte, sondern auch zwischen den Generationen. Generationengerechtigkeit heißt die dazugehörige Vokabel, deren zugrunde liegendes Prinzip sich an der Proportionalität von Aufwand und Ertrag sozialstaatlicher Leistungen orientiert. Die Relation von Leistung und Gegenleistung soll in jeder Alterskohorte gleich sein. Anders formuliert: Generationengerechtigkeit bedeutet, dass die heute Jungen und nachfolgende Generationen gleichwertige Lebensgestaltungschancen haben sollen wie die gegenwärtig gesellschaftlich und politisch verantwortliche Generation.
Der deutsche Soziologe Heinz Bude hat dazu einmal hellsichtig festgehalten, dass allen Beteiligten über die Generationsgrenzen hinweg gemein sei, „dass sie den Glauben an die Zukunft verloren haben. Die Jungen den Glauben daran, dass sie eine eigene Zukunft haben werden, und die Alten, dass die Jungen noch eine vergleichbare Zukunft erwarten können, wie sie sie gekannt haben.“ Die Forderung nach Generationengerechtigkeit ist für Bude Ausdruck des Abschieds von einem historischen Bewusstsein, das die Abfolge der Generationen als einen nach vorne offenen und den Geschichtsprozess selber öffnenden Weg durch die Zeithorizonte begreifen konnte. „Wenn im 20. Jahrhundert eine Generation nach der anderen sich als Avantgarde der Zeit sah, die als Urgrund einer Veränderung erschien, die unaufhörlich Vergangenheit hinter sich ließ, um Zukunft zu öffnen, dann tritt heute jede sich meldende Generation auf der Stelle, weil sie sich von der Vergangenheit belastet und von der Zukunft bedroht fühlt“, meint Bude resigniert.
Der Soziologe sieht zudem an anderer Stelle die Nachkriegsentwicklung, die dazu geführt hat, dass die Mitte der Gesellschaft immer breiter und tiefer geworden ist, am Ende. Die Ungleichheit nimmt zu, die Schere zwischen Arm und Reich geht auseinander. Damit hat sich vordringlich die Verteilungsgerechtigkeit zu befassen, so wie die Geschlechtergerechtigkeit mit dem Verhältnis der Geschlechter. Ungleichheit ist nicht zwangsläufig dasselbe wie Ungerechtigkeit. Ungleichheit kann gerecht sein, ebenso wie Gleichheit ungerecht sein kann. Wer sich mit Gerechtigkeit befasst, wird von absoluten Gewissheiten Abschied nehmen müssen, weil die Vorstellungen davon nun einmal subjektiv sind. Gerechtigkeit liegt im Auge des Betrachters.
Text: Marian Kröll