Eine Zeit lang sah es gegen Ende des 20. Jahrhunderts so aus, als hätte die Tradition ihren Wert verloren und viel von ihrer Strahl- und sozialkonstitutiven Bindekraft eingebüßt. Das Ende der Geschichte war damals ausgerufen worden, zuletzt vom Politologen Francis Fukuyama Ende der 1980er-Jahre. Dieser vertrat die These, dass sich nach dem Ende der Sowjetunion Liberalismus, Marktwirtschaft und Demokratie allerorten durchsetzen würden. Friede, Freude, Eierkuchen. Damit ist es nichts geworden. Traditionale Strukturen sind widerständiger als angenommen und lassen sich nicht von der Versprechung maximaler persönlicher Freiheit so einfach absorbieren. Autoritäre Staaten sind auf dem Vormarsch, und gerade in der westlichen Welt ist es eine auch angesichts der Umstände zunehmend autoritäre Staatlichkeit, welche die Erzählung vom Ende der Geschichte zunichte macht. Die liberale Demokratie mag wirtschaftlichen Erfolg, relative Sicherheit und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bieten, eines kann sie jedoch nicht, was besonders die Tradition schon immer gut konnte: Gemeinschaft und Identität stiften und Stolz begründen. Stolz auf die Heimat, die Nation, das Dorf, die Sippe.
Wohl auch deshalb ist heute der Stellenwert der Tradition wieder ein größerer: Sie ist wieder da. Tradiertes in all seinen Formen hat wieder Konjunktur, Tradition ist – auch wenn das bei oberflächlicher Betrachtung vielleicht paradox klingen mag – modern geworden und wird da und dort sogar zur Hochkultur hochgejazzt. Diese Stilisierung zum kulturellen Erbe, die zunehmend auch kleinräumigere Traditionen erfahren, wertet der Innsbrucker Kulturwissenschaftler Ingo Schneider „als Prozess der Konstruktion oder Produktion von Kultur“. Dementsprechend darf man, wenn vom kulturellen Erbe die Rede ist, durchaus hellhörig werden, zumal der Begriff besonders im Kontext von Kulturpolitik und Tourismus bemüht, wenn nicht gar strapaziert wird.
Eine wesentliche Funktion der Tradition ist deren engste Verbindung mit dem (kollektiven) Gedächtnis. Tradition hänge mit Ritualen zusammen, meint etwa der britische Soziologe Anthony Giddens, sie verfüge über eigene „Bewahrer“ und „Hüter“ und – Giddens nimmt die Bräuche davon explizit aus – eine bindende moralische und emotionale Kraft. Gedächtnis diene, wie Traditionen, der Organisation der Vergangenheit in Bezug auf die Zukunft.
Ingo Schneider, Professor für Europäische Ethnologie an der Universität Innsbruck, der sich auch wissenschaftlich an der Tradition abgearbeitet hat, bringt ebenfalls ein wenig Licht ins Dunkel des Traditionalen. Wie eine Tradition entsteht, lässt sich dabei gar nicht so einfach sagen. „Jede Tradition wird irgendwann einmal erfunden“, sagt Schneider. Das ist zunächst einmal gar nicht so offensichtlich, werden Traditionen doch „mit einem mythischen Schleier überzogen“, der wohl suggerieren soll, „dass sie schon immer dagewesen sein müssen“, meint der Ethnologe. Das heißt nicht, dass die Erfindung einer Tradition eine absichtsvolle Handlung gewesen sein muss.
„In den letzten zwei, drei Jahrzehnten wurden in Tirol auffallend viele Bräuche wiederbelebt“, sagt Schneider. „Auch dort, wo es sie ursprünglich nicht gegeben hat, wurde versucht, historische Anknüpfungspunkte zu finden.“ Das gelte vor allem für die Bräuche in der Winterzeit, jene um den 6. Dezember und in der Fasnacht. „In Nordtirol haben nach dem Zweiten Weltkrieg die großen Fasnachtsorte ihre Fasnachtsbräuche mit riesigem Aufwand alle paar Jahre aufgeführt. Das waren ursprünglich aber nur ein paar Orte, darunter Imst, Nassereith, Telfs, Axams oder die sogenannten Martha-Dörfer (Mühlau, Arzl, Rum, Thaur und Absam) mit ihrem Mullerlaufen. Ab dem Jahr 2000 wurden Fasnachtsbräuche in zunehmend mehr Orten wiederaufgeführt. Im Unterland sind dagegen vor allem die vorweihnachtlichen Bräuche, etwa das Perchtenlaufen, plötzlich allerorts aus dem Boden geschossen“, erzählt Ingo Schneider.
Was bewegt junge Menschen dazu, derartige Bräuche zu betreiben? „Ganz so schlau bin ich aus dieser Frage noch nicht geworden“, räumt der Wissenschaftler ein. Schneider sieht in der Moderne und ihren Prozessen eine Krise der Identitäten mitangelegt. „Es ist schwieriger geworden, Identitäten auszubilden“, sagt der Professor. Das mag damit zusammenhängen, dass die Globalisierung alle Bereiche des Lebens durchdrungen hat. Es gibt auch durchaus die Wahrnehmung, dass mit der Zuwanderung die „Einheimischen“ sich in ihrer Identität bedroht sehen. Schneider vermutet, dass das Wiederaufleben der Bräuche in gewisser Weise mit einem diffusen „Zukunftsgewissheitsschwund“ zusammenhängen könnte. Das ist gewissermaßen die Modernisierungsverliererthese, formuliert im kultürlichen Kontext.
Bräuche werden heute nicht nur, aber auch aus Gründen der Selbstvergewisserung zelebriert. „Eine Krise der Identität kann es aus meiner Sicht nur geben, wenn man ein sehr starres Bild der eigenen Identität hat. Identität ist aber ein ständiger Prozess, so wie Heimat auch ein ständiger Prozess ist“, argumentiert Schneider für ein flexibles und dynamisches Modell der Identität. „Die Berufung auf die Tradition stellt für manche Menschen eine Möglichkeit dar, sich ihrer Identität zu versichern“, so Schneider. Es ist legitim, dass Tradition auch Identität schafft, nur sollte diese möglichst nicht der einzige Pfeiler sein, auf dem das Selbstbild ruht. Es gibt ältere und neuere Traditionen, bekanntere und weniger bekannte, eigene und andere. Traditionen sind keine Dogmen, sie können sich verändern und tun das auch. Traditionen sind handgemacht. Und wenn sie ihre Wesen nach schon nicht „authentisch“ sein können, sind sie zumindest über weite Strecken gut erfunden.
Foto: Tirol Werbung, Marian Kröll