Die Politik, und bedenklicher noch, mit ihr die Demokratie, wird heute in weiten Teilen der Gesellschaft bestenfalls noch als notwendiges Übel empfunden, das irgendwie erduldet wird. Gleichzeitig sehnen sich Teile der Bevölkerung in den entwickelten Demokratien und speziell in Österreich nach dem starken Mann, der diktiert, wo es langgehen soll. Eigenartigerweise sind Rufe nach der starken Frau noch nicht erschallt, die einem das Handeln – und vorher noch das Denken – abnehmen könnte. Dennoch zeigen sich laut einer aktuellen SORA-Umfrage 87 Prozent der Menschen in Österreich froh, in einer Demokratie zu leben. Das heißt aber nicht, dass allzu gut von jenen gesprochen wird, die für die und von der Politik leben. Die Politiker*innenbeschimpfung gehört zum Standardrepertoire des Redens über Politik. Dabei wird meist die Tatsache verkannt, dass man vor allem auf dem Wege von Wahlen gelegentlich ein Wörtchen dabei mitzureden hätte, von welchen Personen man auf der politischen Bühne repräsentiert wird.
Beruf und Berufung
Politik ist eine Berufung, aber auch ein Beruf. Im Idealfall ist sie gleichermaßen eine Leidenschaft, die gezähmt werden muss, wie ein Handwerk, das beherrscht werden will. Schlechtestenfalls ist sie eine Bühne für Egomanen und Selbstdarsteller, deren einzige „Sache“ sie selbst sind. Politik ist ein Bereich, in dem es Quereinsteiger*innen – ob überraschend oder nicht – einigermaßen schwer haben. So mancher „Wunderwuzzi“ wurde in der politischen Arena schneller entzaubert, als ihm lieb sein konnte. Manch Quereinsteiger*innen, die den mitunter rauen Ton und medialen und öffentlichen Gegenwind nicht gewohnt waren, wurden auch ganz einfach von den Mühen der Ebene zermürbt. Wer von allen geliebt sein will, darf nicht in die Politik gehen, in der es – der demokratischen Verfasstheit unseres Systems sei’s gedankt – Interessengegensätze gibt, ja geben darf, nein sogar geben muss. Wo parlamentarische Mehrheiten organisiert werden müssen, braucht es auch den Kompromiss, der im Übrigen besser ist als sein Ruf und daher rehabilitiert gehört.
Unterschiedliche Quereinstiege
„Mit Quereinsteigern gibt es ambivalente Erfahrungen“, weiß der Politologe Ferdinand Karlhofer und unterscheidet dabei zwei Typen. Der eine betreffe vor allem jene, die sich öffentliche Bekanntheit und Beliebtheit in anderen, weitab von Politik angesiedelten Bereichen erworben haben und vor ihrem Einstieg damit auch nicht in Verbindung gebracht worden sind. Für eine politische Partei ist die Frage, ob Quereinsteiger*innen aus dem Bereich Entertainment, Sport, Journalismus oder einem sonstigen Metier kommen, nebensächlich – ausschlaggebend ist die Prominenz. Allerdings ist diese Art der Kandidat*innenkür nicht frei von Risiko. Nicht selten erweisen sich Quereinsteiger*innen in der Praxis als dem politischen Geschäft nicht gewachsen und scheiden rasch wieder aus. Politisch unerfahrene vermeintliche Zugpferde allein aus wahltaktischem Kalkül ins Rennen zu schicken, sei „schlichtweg unseriös“, attestiert Karlhofer.
Mit dem zweiten, eher nur im weiteren Sinne als Quereinsteiger zu bezeichnenden Typus bezieht sich Karlhofer auf jene Gruppe von Kandidat*innen, die, wenn auch womöglich gar nicht Mitglied, einer Partei nahestehen und von dieser, wenn die Umstände es nahelegen, für eine Hereinnahme in die parlamentarische Politik in Erwägung gezogen werden. Prädestiniert für einen Quereinstieg nach diesem Muster sind vorrangig Vertreter*innen aus dem Verwaltungsbereich und der staatsnahen Wirtschaft, beide traditionell bedeutsame Personalreservoirs insbesondere von SPÖ und ÖVP. Gleichwohl rückt auch bei diesen Rekrutierungsfeldern häufig das Kriterium der Qualifikation von Kandidat*innen zugunsten der für Österreich schon seit den Nachkriegsjahrzehnten dominierenden „Interventionsschiene“ in den Hintergrund. Gängige Praxis war und ist zudem immer noch die Usance, dass Politiker*innen von den Parteien hier „zwischengeparkt“ werden, um bei Bedarf (re)aktiviert zu werden. Vor allem nach Wahlen mit größeren Änderungen der Wähleranteile wird traditionell ein Mechanismus aktiviert, im Zuge dessen Mandatar*innen ausscheiden und mit Wirtschafts- oder Verwaltungsposten bedacht werden oder, je nach Wahlausgang, von dort aus einen Platz im Parlament einnehmen.
Der Soziologe Max Weber (1864–1920) hatte ganz exakte Vorstellungen davon, wie Politiker*innen sein sollten, die er in einer später verschriftlichen Rede mit dem programmatischen Titel „Politik als Beruf“ 1919 in einer Münchner Buchhandlung dargelegt hat. Der erste deutsche Bundespräsident Theodor Heuss, der Max Weber noch persönlich kennengelernt hatte, empfahl seinen Berufskolleg*innen die eingehende Lektüre von Webers Rede in Buchform als Hilfestellung bei der Selbstkritik und als Gegenmittel zur Überheblichkeit. Nie sei, wie es in einem Kommentar in der deutschen Tageszeitung die Welt hieß, „das Plädoyer für Nüchternheit in der Politik mit größerem Enthusiasmus vorgetragen worden“.
Als Gebrauchsanweisung für den Politikbetrieb sollte man Webers Werk freilich heute nicht begreifen. Weber war geprägt von seiner Zeit mit Vorstellungen von Herrschaft und teils auch Demokratie, die heute überkommen sind. Dennoch enthält das Büchlein einige Punkte, die Menschen, die sich heute zur Politik berufen fühlen, beherzigen sollten, auch wenn sie sich vermutlich außerstande sehen werden, alle Punkte auf Webers Wunschzettel für ideale Politiker*innen zu erfüllen.
Max Webers Denken war zweifellos einflussreich und manche seiner Vorstellungen von Politik wirken bis heute fort, vor allem wenn es um die Analyse politischer Vorgänge geht. Weber machte sich keine Illusionen darüber, dass es in der Politik nicht ganz wesentlich um Macht gehe. „Wer Politik treibt, erstrebt Macht: Macht entweder als Mittel im Dienst anderer Ziele (idealer oder egoistischer) – oder Macht ‚um ihrer selbst willen‘: um das Prestigegefühl, das sie gibt, zu genießen“, sagte er. Wer nicht nach Macht strebt und sie ausüben will, wird in der Politik höchstwahrscheinlich zu nichts kommen. Ein gewisser Zug zum Tor ist notwendig, wenn man auf dem äußerst glatten politischen Parkett reüssieren möchte. Im Umkehrschluss dürfte man also Politiker*innen gar nicht erst vorwerfen, nach Macht zu streben, ist sie doch die Grundlage der politischen Handlungsfähigkeit und Effektivität. Machtinstinkt gehört zur Grundausstattung, und der Staat funktioniert nur, wenn sich die Beherrschten – das Volk – den vom Volk auf Zeit durch freie, demokratische Wahlen bestimmten Herrschenden fügen.
Weber hat sich auch eingehend mit der Legitimitätsgrundlage von Herrschaft beschäftigt und wirkt mit seiner Betonung der „charismatischen Herrschaft“ heute anachronistisch. In der „Herrschaft kraft Hingabe der Gehorchenden an das rein persönliche ‚Charisma‘ des ‚Führers‘“ vermochte Weber den Beruf Politiker*in in seiner höchsten Ausprägung vollendet zu erkennen. Heute ist man aus gutem Grund allgemein skeptisch gegenüber diesem Politiker*innen-Typus, denn der Charismatiker geht nur allzu gern mit dem Populisten und in der Folge Demagogen einher. Gepflegte Langeweile ist indes keine politische Killereigenschaft und gewinnt vermutlich keine Wahlen, scheint aber notwendig, um die Dinge einigermaßen im Lot zu halten. Politische Herrschaft beruht in der parlamentarischen Demokratie nämlich nicht auf Charisma, sondern ist eingebettet in eine Verfassung und in genau festgelegte Abläufe, die auch im Krisenfall funktionieren. Auf die österreichische Bundesverfassung ist in dieser Hinsicht Verlass, das haben die Regierungskrisen der jüngeren Vergangenheit – man erinnere sich exemplarisch an das Misstrauensvotum gegenüber der Regierung Kurz – gezeigt.
Ignoranz und Normaldenken
Der russisch-amerikanische Autor Isaac Asimov (1920–1992) hat einst – auf die USA gemünzt – die Existenz eines „Kult der Ignoranz“ ausgemacht, der sich folgend äußere: „Die Bedrohung durch den Anti-Intellektualismus ist eine Konstante, die sich durch unser politisches und kulturelles Leben zieht, genährt durch die falsche Annahme, dass Demokratie bedeutet: ‚Meine Ignoranz ist genauso viel wert wie dein Wissen.‘“ Diese gewagte Annahme dürfte auch der österreichischen Volksseele nicht fremd sein, in der in diesem Sommer eine abstruse Debatte darüber entbrannt ist, was noch normal ist und was nicht mehr. Mit der Selbstverständlichkeit, mit der Katzen Whiskas kaufen würden, würde – so hat es Niederösterreichs Landeshauptfrau in einem Gastkommentar im Standard insinuiert – die normal denkende Mitte der Gesellschaft wohl die Volkspartei wählen.
Eine amorphe Masse von „Normaldenkenden“ – was immer das auch sein soll – gegenüber allen und allem Anderen in Stellung zu bringen, ist ein politischer Schachzug, mit dem man einerseits die Definitionshoheit über die gesellschaftliche Mitte beanspruchen möchte und andererseits im gut gefüllten rechten Wählerteich fischen will, weil die Volkspartei sonst zu den Freiheitlichen hin ausrinnt. Kurzum: Man merkt die Absicht und ist verstimmt. Jedenfalls ändert sich im Laufe der Zeit das, was als normal betrachtet wird. Ein Blick auf die Geschichte zeigt: Was gestern völlig normal war, kann heute völlig falsch und womöglich sogar verboten sein. Die Normalität ist – wie es in Österreich auch schon in Bezug auf Wahrheit behauptet wurde – eine Tochter der Zeit.
Gute Politik hat Augenmaß
„Die Politikwissenschaft“, so Ferdinand Karlhofer, „orientiert sich weniger an dem, was ‚gute Politik‘ ist, sondern an Parametern wie Macht und Kontrolle, Regierung und Opposition, am Prinzip der Gewaltenteilung. Was ‚gute Politik‘ ist, lässt sich nicht so einfach festmachen. Es hängt davon ab, ob eine Partei mit ihrem Handeln und ihren Zielen ohne jegliche Einschränkung das Wohl des gesamten Gemeinwesens, also aller Bürger ohne Unterschied, verfolgt oder ob sie den Fokus auf die – relative – Besserstellung bestimmter Segmente der Gesellschaft richtet. Jeder weiß, dass Ersteres anzunehmen schlicht naiv wäre. Jede Partei ist und fühlt sich primär einer eingegrenzten Klientel verpflichtet. Wäre es anders, bräuchte es keine Parteienvielfalt. Ob eine bestimmte politische Entscheidung als gut oder schlecht gedeutet wird, hängt einzig von deren jeweiliger Weltanschauung der Partei und ihrer Wählerschaft ab.“ Was dem einen nun als „gute Politik“ erscheinen mag, kann für den anderen schon „Kommunismus“ oder „Klassenkampf“ sein oder – wie es in der heurigen, dem Sommerloch zu verdankenden Normaldenker-Debatte auch schon vorgekommen ist – präfaschistoide Züge annehmen.
Gute Politik liegt, auf ihre Inhalte bezogen, im Auge des Betrachters. „Ob jemand allerdings mit Geschick oder – um ein Wort Max Webers zu bemühen – mit Augenmaß Politik macht, ist davon unabhängig zu betrachten. Wenn Politiker*innen dazu nicht in der Lage sind, ist das ein Manko“, so Karlhofer. Politiker*innen müssen sich zudem innerhalb des breiten Bogens der Verfassung bewegen und sollten auch nicht ständig versuchen, dessen Grenzen ausloten. Nur so ist gewährleistet, dass sich die Bürger*innen – um einen ehemaligen Präsidentschaftskandidaten zu zitieren – nicht irgendwann wundern müssen, was alles möglich sein wird. Politik hat auf dem Boden der Verfassung stattzufinden. Punkt. Die Verfassung gibt die Spielräume vor. Und deshalb kann sie auch nicht beliebig geändert werden. Eine sogenannte Gesamtänderung der Bundesverfassung kann in Österreich aus gutem Grunde nur vom Wahlvolk per Volksabstimmung genehmigt werden.
Kein Beliebtheitswettbewerb
Politiker*innen sind – trotz in der Bevölkerung vor allem seit der Pandemie immer weiter zunehmender Skepsis den sogenannten „Mainstream-Medien“ gegenüber – sogar noch unbeliebter als Journalist*innen. Das muss man in einem gesellschaftlichen Klima, in dem man von der mutmaßlichen „Lügenpresse“ schwadronieren darf, ohne dafür gesellschaftlich geächtet zu werden, erst einmal schaffen. Das zeigt, dass der Politikbetrieb kein Beliebtheitswettbewerb ist, selbst wenn man Wahlen für etwas in der Art halten könnte. Kritik ist der Berufspolitiker*innen ständiger Begleiter. Ebenso wenig wie man sich aussuchen kann, von wem man kritisiert wird, kann man sich aussuchen, von wem man gelobt wird. „Lob von der falschen Seite wäre fatal, wenn es nicht aufgewogen würde durch Tadel von der richtigen,“ pflegte Gustav Stresemann, Politiker in der Weimarer Republik, zu sagen.
Die Besten und die Richtigen
Sitzen womöglich in Österreich – wie weiland bei der Fußball-Heim-EM 2008 im Kader des ÖFB-Teams – im Parlament und allen anderen politischen Gremien vielleicht nicht unbedingt die Besten, sondern eher die Richtigen? Diesen Verdacht hegt auch der Politikwissenschaftler Karlhofer. Die Debatte um die Nulllohnrunde für Politiker*innen hält er für „mehr als durchsichtig“, komme dieses, wie der Politologe es pointiert formuliert, „Armutsgelübde“ doch einer Selbstabwertung der eigenen Arbeit gleich.
Rund die Hälfte der österreichischen Parlamentarier zählt sich zu den Berufspolitiker*innen, deren Einkommen überwiegend oder ausschließlich aus der politischen Tätigkeit kommt. „Ein Bruttogehalt von weniger als 10.000 Euro – das ist die unterste Stufe der parlamentarischen Gehaltspyramide – ist nicht zu viel für die Ausübung einer Funktion, die als Fulltime-Job zu verstehen ist“, meint der Experte. Er hält Politiker*innen nicht pauschal für überbezahlt, bemängelt aber, dass es keinen Maßstab gibt, um ihre Leistung zu messen. Für besonders gut qualifizierte Menschen sei ein Wechsel in die Politik nicht attraktiv. Die besten Köpfe können in der Privatwirtschaft wesentlich mehr verdienen. Für Österreichs politische Landschaft bedeutet das, wie der Politologe folgert: „Zu einem Gutteil finden sich hierzulande in den politischen Positionen nicht die besten, vielfach eher zweitbeste Köpfe.“ Das erklärt auch das Phänomen des sogenannten Hinterbänklers im Parlament. Die Inaktivität der „faulsten“ Abgeordneten, jenen also, die sich bei Debatten selten bis gar nicht zu Wort melden, ist quantitativ leicht zu erfassen. Auf ihr Gehalt wirkt sich das nicht aus; sie erhalten gleich viel wie die, denen die Partei ihre wahrnehmbare Präsenz im Hohen Haus verdankt.
Korruption durch die Drehtür
Ehemalige Berufspolitiker*innen sind, abgesehen von den Hinterbänklern, in der Wirtschaft oft begehrt. „Dort werden sie meist auch besser bezahlt“, sagt Karlhofer. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie Kontakte haben und Träger*innen von Insiderinformationen sind. Der Revolving-Door-Effect, im Deutschen auch als Drehtür-Effekt bekannt, kommt hier zum Tragen. Er beschreibt den häufig fliegenden Wechsel zwischen Politik und Wirtschaft, der auch mehrfach erfolgen und im Fall von Lobbyismus gezielt genutzt und herbeigeführt werden kann. Deshalb fordern Kritiker*innen seit längerem eine sogenannte „Abkühlungsphase“ für Spitzenpolitiker*innen, eine Art Karenzzeit, bevor die ehemaligen Politiker*innen in der Wirtschaft tätig werden können. Es kann nicht im Interesse der Bürger*innen sein, dass Politiker*innen – wenn auch nur in Ausnahmefällen – sich eine Gesetzeslage so herrichten können, dass sie nach ihrem Wechsel in die Privatwirtschaft genau davon profitieren und von ihren neuen Arbeitgeber*innen dafür entsprechend honoriert werden. „Die Schattenseite der Verflechtungen zwischen Wirtschaft und Politik heißt Korruption. Im globalen Ranking von Transparency International ist Österreich seit 2022 erstmals unter den 20 als am seriösesten eingestuften Ländern nicht mehr vertreten“, hält Karlhofer fest.
Politik(er)verdrossen?
Ein prominenter Gemeinplatz des Redens über Politik ist die sogenannte Politikverdrossenheit. Zu ihr hat sich neuererdings die Politikerverdrossenheit gesellt. Ob das Wahlvolk genug von den politischen Prozessen an sich oder eher die Regierten genug von Regierenden haben, ist schwer mit Gewissheit zu sagen. „Politikerverdrossenheit beschreibt allgemein die (subjektive) Einschätzung der Bevölkerung, von der ‚falschen‘ politischen Elite regiert und vertreten zu werden, und die daraus resultierende generelle Verdrossenheit gegenüber Politikern aus dem ‚Establishment‘, also gegenüber der politischen Klasse“, weiß das Online-Lexikon Wikipedia dazu und beschreibt ein Empfinden, das nicht nur in Österreich, sondern in allen entwickelten Demokratien in der einen oder anderen Form existiert. „Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“ hat Bertolt Brecht (1898–1956) einst fragen lassen.
Der deutsch-italienische Soziologe Robert Michels hat bereits am Beginn des 20. Jahrhunderts sein „Ehernes Gesetz der Oligarchie“ formuliert, das besagt, dass Parteien und andere Großgruppen immer und zwangsläufig bürokratische Organisationen herausbilden würden, deren Spitzen sich zu oligarchischen Machteliten entwickeln. „Die Organisation ist die Mutter der Herrschaft der Gewählten über die Wähler, der Beauftragten über die Auftraggeber, der Delegierten über die Delegierenden“, schrieb Michels. Das tut der Demokratie nicht unbedingt gut, lässt sich aber wohl nicht verhindern.
Der Aufstieg innerhalb einer Partei, von der lokalen Ebene bis hinauf zur Parteispitze, sei meist tatsächlich eine „klassische Ochsentour“, sagt Karlhofer. Schon manche kometenhafte Aufsteiger*innen sind dagegen rasch wieder verglüht, weil es ihnen an Hausmacht gefehlt hat. Mit der Ochsentour geht ein anderes Phänomen einher: „Die Ämterkumulierung prägt die politische Kultur Österreichs und den Zustand unseres Parteiensystems, der mit anderen Ländern Mittel- und Nord-
europas kaum vergleichbar ist. Man könnte ihn auch als Verwahrlosung bezeichnen“, sagt Karlhofer. Das habe zum negativen Bild der Politik in der Öffentlichkeit beigetragen. Und tatsächlich wird es für die meisten Normalverbraucher*innen ein Mysterium bleiben, wie manche Politiker*innen nicht nur einen, sondern gleich mehrere Vollzeitjobs, Ämter, Posten und Pöstchen in ihrem Zeitbudget unterbringen können und sich das auch mehrfach abgelten lassen. Kritik an der Ämterhäufung wird meist laut, weil es dadurch zu einem Mangel an demokratischer Kontrolle und Interessenkonflikten kommen kann und weil Mehrfachbezüge Neid erwecken können. Leistung muss sich, wie man als gelernte Österreicherin, als gelernter Österreicher weiß, lohnen. Ob auch immer etwas Adäquates geleistet wurde, wenn Geld geflossen ist, ist nicht erst in Zweifel zu ziehen, seit im Dunstkreis der hiesigen Politik die überaus ehrliche Frage „Wo woa mei Leistung?“ gestellt wurde.
Misstrauensvorschuss
Das Misstrauen gegenüber denen „da oben“ hat zweifellos zugenommen, und dafür gibt es leider gerade in Österreich mehr als einen Grund, wie man an der regen Ermittlungstätigkeit der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft ablesen kann. Es könnte das Wahlvolk verdrießen, wenn es beim Gedanken an einen guten Teil seiner politischen Repräsentant*innen – es handelt sich übrigens zumeist um Männer – die Unschuldsvermutung gleich mitdenken darf. Wo die Unschuldsvermutung, wie es in politischen Kreisen der Fall ist, gehäuft auftritt, besteht immer auch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit der Schuld, aber auch die erhöhte Wahrscheinlichkeit, jemandem Unrecht zu tun. Über Schuld oder Unschuld haben im Rechtsstaat die unabhängigen Gerichte zu befinden. Für die Medien, die der Objektivität verpflichtet sein sollten, ist die Berichterstattung in dieser Hinsicht ein Minenfeld, das von Litigation-PR-Expert*innen immer professioneller bestellt wird. „Flood the zone with shit“ heißt eine durchaus unappetitliche und in höchstem Maße zynische Strategie, die aus dem US-amerikanischen Raum auch in die hiesige Demokratie herübergeschwappt ist und deren erklärtes Ziel es nicht etwa ist, die Menschen von irgendeinem konkreten Sachverhalt zu überzeugen, sondern dazu zu bringen, niemandem mehr etwas zu glauben. Dass derartige Kommunikation demokratiezersetzend wirkt, braucht nicht extra dazugesagt werden.
Raum für Neues
Mit dem Begriffspaar Politik- und Politikerverdrossenheit hat Politikwissenschaftler Ferdinand Karlhofer keine allzu große Freude, da es ihm wissenschaftlich nicht ergiebig genug ist. Er spricht dagegen lieber von Politikdistanz und -interesse und macht klar, dass die Wahlbeteiligung allein kein Ausweis für die Gesundheit einer Demokratie ist. Heute gibt es allerdings mit dem anthropogenen – Prädikat hausgemacht! – Klimawandel wieder ein Thema, das junge Menschen politisch aktiviert und für das manche von ihnen sogar bereit sind, sich auf hochfrequentierten Straßen festzukleben. Dafür ernten die sogenannten Klimakleber aus einem breiten Spektrum der Gesellschaft Ablehnung und Spott, zunehmend auch Wut. Es steht allerdings zu bezweifeln, dass das Klimakleben für unser zukünftiges Zusammenleben auf diesem Planeten schädlicher sein wird als das Klima-Wegschauen, das weite Kreise der Politik, aus welcher Motivlage heraus auch immer, nach wie vor betreiben. Das Weltklima ist dabei, aus den Fugen zu geraten, und das wird sich höchstwahrscheinlich nicht mehr lange leugnen oder ignorieren lassen. Diesbezüglich könnten sich die Bürger*innen dieses Landes eines in Erinnerung rufen: Wenn diejenigen, die sie vertreten, sich nicht ändern wollen, dann liegt es an ihnen, die Leute auszutauschen, die sie vertreten. Dieses Bewusstsein sollte vor allem im Angesicht der sich verschlechternden Klimasituation geschärft werden.
Die traditionellen Milieus und damit einhergehend Lagerbindungen der Wähler*innen sind seit langer Zeit in Auflösung, heute wird flexibel gewählt, quer durchs Gemüsebeet. Das bietet auch neuen Bewegungen, die vom außerparlamentarischen Raum ins Parlament vordringen wollen, einigen Raum. Was die vom Menschen verursachten Treibhausgasemissionen und deren Einfluss auf das Klima betrifft, hat bereits mit dem Beginn der Industrialisierung die „Fuck around“-Phase begonnen, und nun scheint die Menschheit allmählich – oder vielleicht sogar plötzlich – in der „Find out“-Phase angekommen zu sein, in der guter Rat zunehmend teuer ist. „Es ist ein ziemlicher Mist, ganz am Ende des ‚Fuck around‘-Jahrhunderts geboren worden zu sein, nur um den Rest meines Lebens im ‚Find out‘-Jahrhundert zu verbringen“, verlieh ein Millennial diesem neuen, generationenübergreifenden kollektiven Unbehagen via Twitter – neuerdings X – Ausdruck und stieß auf zigtausendfachen Widerhall.
Wider die erlernte Hilflosigkeit
Ferdinand Karlhofers Fazit ist Feststellung und Warnung zugleich: „Eine wachsende Zahl der Wählerschaft traut der österreichischen Bundesregierung schlicht nicht mehr zu, den Problemstau zu beheben. Die Unterschicht ist zwar sozialpolitisch grundsätzlich abgesichert, nimmt quantitativ aber zu. Als problematisch wird von Ökonomen zusätzlich die Entwicklung des Mittelstands eingestuft, der schon seit der Finanzkrise 2008 Einbußen hat hinnehmen müssen und von der aktuellen Zinsentwicklung am meisten in Mitleidenschaft gezogen ist. Die Folgen sind gravierend: Wir erleben heute eine Abwanderung in zwei Richtungen, in Fatalismus auf der einen und zu einer Radikalisierung auf der anderen Seite.“
Ein Grund mehr für Frau und Herrn Österreicher, ihre erlernte Hilflosigkeit im Umgang mit der Demokratie, ihren Institutionen und ihren Akteur*innen, ihren Repräsentant*innen, schnellstmöglich zu verlernen. Ein Mindestmaß an politischer Grundbildung muss in Fleisch und Blut übergehen, denn Politik ist die Arena, in der das Zusammenleben der Menschen ausgehandelt wird. Der Mensch ist nun einmal ein „zoon politikon“, ein soziales, politisches Wesen. Politik betrifft ausnahmslos alle. Um abschließend noch einmal Max Weber zu bemühen: „Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.“ In einer Demokratie liegt es in der gemeinsamen Verantwortung aller, dafür zu sorgen, dass in den Parlamenten und bestenfalls auch Regierungen möglichst wenige Dünnbrettbohrer anzutreffen sind. Wie das gehen könnte: Geschichtsbewusst und zukunftsträchtig wählen oder selbst in einer etablierten – oder womöglich noch zu gründenden – Partei Hand anlegen.
Text: Marian Kröll