Es gibt sowohl Parallelen als auch Unterschiede zur letzten Stagnationsphase in den 1970er-Jahren, die der Weltwirtschaft ein verlorenes Jahrzehnt beschert hat. Hintergründe und Ursachen haben wir mit Universitätsprofessor Jürgen Huber ausgeleuchtet.
eco.nova: Der renommierte Ökonom Kenneth Rogoff sieht das Risiko eines perfekten Sturms heraufziehen und mit ihm eine mögliche Stagflation. Was ist Stagflation und müssen wir uns vor ihr fürchten?
Jürgen Huber: Stagflation ist grundsätzlich ein Kunstwort, gebildet aus Stagnation und Inflation – kein reales Wirtschaftswachstum, gekoppelt mit relativ hoher Inflation. Der Begriff stammt aus den 1970er-Jahren. Damals gab es genau dieses Szenario, mit ähnlichen Vorzeichen wie heute. Es gab mit dem Vietnamkrieg einen großen Krieg und zwei Ölpreisschocks 1974 und 1979. Diese Faktoren haben die Inflation damals wesentlich angeschoben. Der Sozialstaat war in einer Sackgasse, das schnelle Wachstum der Nachkriegszeit vorbei. Jeder hatte ein Auto, eine Waschmaschine und konnte sich einen Urlaub leisten. Die Wirtschaft wuchs kaum noch, die Inflation hat sich über eine Lohn-Preis-Spirale konstant bis auf schließlich 17 Prozent in den USA 1980 hinaufgeschraubt. Das war das Resultat der letzten Stagflation vor über vier Jahrzehnten. Das waren wirtschaftlich keine guten Jahre. Die Reallöhne sind nicht gestiegen bzw. eher gesunken und auch die Erträge aus Aktien und Anleihen waren mau bis negativ.
Wie wurde diese Stagflation damals beendet?
Das Ganze wurde durch eine sehr brachiale Zinserhöhung der US-Zentralbank Fed rund um Notenbankchef Paul Volcker beendet. Die Zinsen wurden bewusst so weit nach oben gefahren, wie es notwendig war, wissend, dass das eine enorme Rezession auslösen würde.
Sie haben einige Parallelen zu den 1970er-Jahren ausgemacht, aber es gibt auch Unterschiede. Die Niveaus der Staatsverschuldung waren damals nicht annähernd so hoch wie heute.
Es gibt einige ganz krasse Unterschiede zwischen der Situation 2022 und in den 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahren: Früher haben die Notenbanken relativ schnell auf steigende Inflationsraten reagiert und die Leitzinsen entsprechend erhöht. Das ist in den USA und vor allem in Europa – acht Prozent Inflation und Zinsen zugleich immer noch im Nullbereich – diesmal nicht geschehen. Das ergibt ungeheure negative Realzinsen, die jedem nützen, der Schulden hat, und jedem schaden, der Geld hat. Geld, sei es am Sparbuch oder als Bargeld, bringt derzeit garantiert acht Prozent Verlust. Fixverzinste Kredite mit niedrigen Zinssätzen zahlen sich dagegen aus. Die Achillesferse unserer Wirtschaft sind die Schulden. Vor allem die Staaten sind so hoch verschuldet wie zumindest seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr, aber auch viele Private. Das liegt vor allem an den hohen Immobilienpreisen. Verschuldet sind allerdings auch die Unternehmen und nicht zuletzt die Banken. Insgesamt macht die Gesamtschuldenquote das Dreieinhalbfache unserer Wirtschaftsleistung aus. Da hilft Inflation bei der Entschuldung, solange die Zinsen nicht mitziehen. Die Fed und auch die Europäische Zentralbank/EZB waren und sind so lange zögerlich, um den Schuldnern zu helfen – und die größten Schuldner sind die Staaten. Wenn die in die Bredouille kommen, wackeln die Banken gleich mit.
Was würde ein Stagflationsszenario für den Einzelnen bedeuten und wie kann man aus diesem Szenario wieder herauskommen, ohne – wie in den 1970ern – vor einem aus Prosperitätsperspektive verlorenen Jahrzehnt zu stehen?
Dazu muss festgehalten werden: Wir haben seit langem, besonders aber in den vergangenen 15 Jahren, über unsere Verhältnisse gelebt. Das gilt zum einen für die Welt im Ganzen, deren Ressourcen systematisch übernutzt sind, Stichwort Klimawandel und zu billige Energie, zum anderen gab es in den letzten 15 Jahren einige sehr große Krisen – die Finanzkrise, die Euro-Schuldenkrise, die Pandemie und jetzt den Krieg. Jede dieser Krisen wurde durch staatliches Geld „zugebuttert“. Die Staaten haben Geld in die Hand genommen, um die Banken zu retten, um die Griechen vor dem Staatsbankrott zu retten, und bei Corona war plötzlich alles möglich. Die Staaten haben sich maßlos verschuldet. Wir haben unser zukünftiges Geld verbraucht. Schulden sind vorgezogener Konsum, der irgendwann zurückgezahlt werden muss. Ich glaube, dass wir den Zeitpunkt erreicht haben, an dem es zum Zurückzahlen ist. Wir müssen uns als Gesellschaft darauf einstellen, den Gürtel enger zu schnallen, dass es ein bisschen weniger von allem gibt.
Die bisherigen schweren Krisen wurden ohne nennenswerte Wohlstandsverluste übertaucht. Das geht sich also nicht noch einmal aus?
Korrekt – es hätte schon früher Wohlstandsverluste geben müssen. Wir haben aber immer wieder mit neuem Geld gezahlt, es wurden tausende Milliarden neu geschaffen. Die Bilanzsumme der EZB ist heute siebenmal so groß wie vor 2008. Aufgrund des vielen neuen Geldes, das irgendwo hin musste, sind die Aktienkurse und Immobilienpreise gestiegen, darum war auch für Absurditäten wie Bitcoin und NFTs noch genug da. Es ist kein Zufall, dass die Kryptowährungen eingebrochen sind und weniger über NFTs geredet wird. Wird der Gürtel enger geschnallt, ist für solche Spielereien nicht mehr genug Geld übrig. Das Gute daran ist, dass es dringend notwendig ist, den Gürtel enger zu schnallen. Die herausragende Herausforderung und Krise aller Krisen ist der Klimawandel. Da hat die Menschheit viel zu lange zugeschaut und zu wenig getan.
Es wird verschiedentlich vor einer sogenannten Lohn-Preis- bzw. Preis-Lohn-Spirale gewarnt, davor, dass sich höhere Preise und in Folge höhere Löhne gegenseitig aufschaukeln. Wäre theoretisch Lohnzurückhaltung trotz hoher Inflation der vernünftigere Weg, um einer solchen unheilvollen Dynamik zuvorzukommen?
Aus wissenschaftlicher Sicht auf jeden Fall. Die Regierungen und Zentralbanken haben lange darauf gehofft, dass die Inflation nicht so stark zunimmt und nicht lange anhält. Je länger und höher die Inflation steigt, umso schwieriger wird es, sie wieder loszuwerden. Der Ölpreis ist zu 70 Prozent für die steigende Inflation in Europa direkt verantwortlich. Stabilisiert sich dieser bis zum nächsten Jahr bei 110 Dollar pro Barrel, wäre der Inflationsbeitrag der Energie für das kommende Jahr null. Werden aber sämtliche Mieten, Löhne, Gehälter, Pensionen etc. indexiert, bliebe man in der Inflationsspirale gefangen. Und danach sieht es zunehmend aus.
In einer Stagflation leidet normalerweise der Arbeitsmarkt. Gegenwärtig sieht es aber ganz im Gegenteil so aus, als ob das Arbeitskräfteangebot nicht mit der Nachfrage Schritt halten kann. Rechnen Sie mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit?
Ja, aber erst in einem Jahr. Kühlt sich die Wirtschaft deutlich ab, wird die Arbeitslosigkeit trotz demografischen Wandels bzw. Überalterung der Gesellschaft steigen. Dramatische Massenarbeitslosigkeit sehe ich allerdings nicht kommen. Das hängt aber von vielen anderen Faktoren ab – etwa der Entwicklung der Pandemie.
Wir bekommen jetzt die Rechnung für die Fehler der Vergangenheit präsentiert. Wie könnte man diese Rechnung überhaupt begleichen?
Über Vermögenssteuern. So wurde auch nach dem 1. und 2. Weltkrieg die Ungleichheit reduziert. Die Reichen sind – global und in Österreich – in den und durch die Krisen sehr viel reicher geworden. Allein 2021 wuchs ihr Vermögen um 16 Prozent, während das Vermögen der ärmeren Bevölkerungshälfte nicht wuchs. Wer am meisten durch die Geldflut gewonnen hat, sollte nun auch solidarisch zur Lösung der Probleme beitragen – auch zur Eindämmung der Ungleichheit und um die kommenden Belastungen zu schultern, muss man über Vermögenssteuern reden. Bei Vermögen von über fünf Millionen Euro wären nach meiner Einschätzung zwei Prozent Vermögenssteuer pro Jahr sinnvoll und vertretbar. Das würde damit 99 Prozent der Bevölkerung nicht, sondern eben „die obersten 10.000“ betreffen. Österreich rangiert bei den Vermögenssteuern global betrachtet derzeit ganz hinten. Die Antwort, warum das so ist, ist in den herrschenden politischen Verhältnissen zu finden. Wollen wir nicht eine immer gespaltenere Gesellschaft mit wenigen Superreichen, die vor allem die meisten Immobilien besitzen, und einer unzufriedenen breiten Masse, dann sind Vermögenssteuern wohl das zielführendste Mittel. Leider lässt sich gegen diese sehr gut populistisch agieren, so dass keine Partei sich traut, solche Steuern zu fordern – obwohl sie 99 Prozent der Bevölkerung nicht treffen würden, diesen aber helfen würden, da Staatseinnahmen generiert werden, die sonst von der breiten Masse kommen müssen.
Interview: Marian Kröll