Zweifellos hatten Österreichs Arbeitnehmer schon einmal mehr zu lachen. Es wird für diese nämlich heuer einen saftigen Reallohn- und damit Kaufkraftverlust setzen. Das deutsche WSI (Wirtschafts- und Sozial-wissenschaftliches Institut) nimmt für Österreich eindeutliches Einkommensminus von 4,2 Prozent an, imEU-Schnitt sollen es dagegen „nur“ 2,9 Prozent sein.Vor allzu kräftigen Lohnsteigerungen wird vor allem von den Wirtschaftsverbänden gewarnt, allenthalben eine drohende Lohn-Preis-Spirale ins Feld geführt. Das, obwohl von den Löhnen bisher kaum erkennbarer Inflationsdruck ausgeht. Die schmerzlichen Kaufkraftverluste sorgen wiederum für Konsumzurückhaltung, was die Wirtschaft abkühlt.
Seit längerem ist die aktuelle Gemengelage aus hohen Energiepreisen, hoher Inflation und steigenden Zinsen wieder eine akute Bedrohung nicht nur für die unteren Einkommensschichten, deren Einbußen stärker überSozialtransfers abgefedert werden, sondern besonders für den sogenannten Mittelstand. Die Lage ist schwierig, die Frage, welche Lohn- und Gehaltsabschlüsse heuer arbeitnehmerseitig geboten und arbeitgeberseitig noch vertretbar sind, ohne klare Antwort. Doch das gilt nicht nur für die heurigen Lohnrunden, sondern für dieGerechtigkeit in der Entlohnung von Arbeitskraft ganz allgemein. Da wäre zunächst einmal der Markt, der maßgeblich mitbestimmt, wie viel Arbeitskraft gerade wert ist. Derzeit haben wir einen Arbeitnehmermarkt, das heißt, es gibt mehr Nachfrage nach Arbeitskräften alsAngebot. Arbeitgeber müssen um Arbeitskräfte konkurrieren. Die demografische Entwicklung spricht dafür, dass dieser Zustand – abgesehen von Wirtschaftskrisen– Normalität wird. Das sollte die Arbeitnehmer in eine stärkere Position versetzen. Theoretisch. Doch ganz so einfach ist es längst nicht.
FREIZEIT, TEILZEIT, VOLLZEIT
Lebenszeit und Arbeitskraft gegen Geld, als Gehalt oder Lohn, so lautet die allgemeine und auch allgemein akzeptierte Formel in kapitalistischen Systemen, die in den heutigen „Normalarbeitsverhältnissen“ zum Ausdruck kommt, die historisch betrachtet freilich alles andere als die Norm sind. „Früher musste man die Menschen in die Fabriken hinein knüppeln. Heute muss man sie aus den Betrieben und Büros heraus prügeln. So sehr haben sie ihre abhängige Erwerbsarbeit als sinnstiftend, unabdingbar und naturnotwendig akzeptiert“, heißt es in der linksliberalen deutschen Wochenzeitung „derFreitag“ durchaus kritisch. Es sei heute vordergründig kein Zwang mehr notwendig, damit die Menschen großeTeile ihrer Lebenszeit einem Unternehmen übereigneten, wird an derselben Stelle spitz formuliert. Wobei aus heutiger Sicht keineswegs abgemacht ist, dass dieser „Normalzustand“ sich so fortsetzt. Es ist eine gewisse Ermüdung unter den Arbeitnehmern auszumachen, eine Desillusionierung, die den Slogan, wonach sich Leistung auch lohnen müsse, zur hohlen Phrase verkommen lässt. Aus Vollzeit, Teilzeit, Freizeit wird in zunehmend breiteren Gesellschaftsschichten Freizeit, Teilzeit und – erst wenn es finanziell gar nicht anders geht – Voll-zeit. Oder auch nicht. Zumal mit Blick auf die im internationalen Vergleich in Österreich sehr hohe Teilzeitquote der Eindruck entstehen kann, dass zunehmend mehr Menschen der Vollzeitarbeit den Rücken kehren, weil sie unterm Strich nicht viel mehr davon haben, Vollzeit zuarbeiten. Da ist es doch besser – das ist an dieser Stelle eine These, kein Tatsachenbefund –, Freizeit gegen Arbeitszeit einzutauschen und auf staatliche Zuschüsse zuwarten, die es in irgendeiner Form geben wird müssen, weil die Lebenshaltungskosten zunehmend steigen und sich breite soziale Unruhen niemand leisten kann.
Für ein Sozialsystem ist es elementar, dass es genügend Nettozahler gibt, die das System tragen. In derRegel tragen Frau und Herr Österreicher nur während ihrer beruflich aktiven Zeit das System als Nettozahler, als Kinder und Jugendliche sowie als Pensionisten sind sie dagegen Nettoempfänger. Sinkt die Zahl derNettozahler, droht längerfristig Ungemach. Die Politik wäre gut beraten, eine nachhaltige Entlastung desFaktors Arbeit in Österreich ins Auge zu fassen und aus der Realität, dass Arbeit im internationalen Vergleich hierzulande sehr hoch und Vermögen sehr niedrig be-steuert sind, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Wenn sichArbeit stärker lohnt, dürften wieder mehr Menschen in die Vollzeitbeschäftigung drängen.
MONETÄR UND MORALISCH
Etymologisch geht das Wort Lohn auf die germanische Wurzel *launa zurück, was so viel bedeutet wie „erbeuten“. Die Perspektiven von Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf Lohn bzw. Gehalt sind naturgemäß unterschiedlich. Es kann vorkommen, dass etwaigeLohnzuwächse als etwas gesehen werden, das gerade gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer als Stück vom Kuchen gewissermaßen erbeutet haben, in hartemFeilschen mit den Arbeitgebern und deren Vertretungen, immer mit der Arbeitsniederlegung in der Hinterhand.Aus Arbeitnehmersicht werden Lohn bzw. Gehalt dagegen lieber als etwas betrachtet, das man verdient hat. Das, was man im Tausch gegen die Arbeitskraft verdient hat und tatsächlich bekommt, ist nicht unbedingt deckungsgleich. Geld drückt Wert aus, materiellen wie immateriellen. Geld ist Wertschätzung, Anerkennung, die in Bits und Bytes auf das Konto eingezahlt wird. Neben diesem monetären Gehalt gibt es auch noch so etwas wie ein moralisches Gehalt, das Karl Marx als „historisches und moralisches Element“ bezeichnet hat. Dabei geht es grundsätzlich um die Bedingungen, unter denenMenschen ihr Geld verdienen. Es ist zum Beispiel einUnterschied, ob man nun sein Geld in einer unkündbaren Position verdient oder unter prekären Bedingungen, ob man in einem Umfeld arbeiten kann, in dem man sich wohl fühlt, oder ob man ständig unter Druck steht.Übers individuelle Gehalt wird in unseren Breiten eher wenig gesprochen, es herrscht – sieht man einmal von der verpflichtenden Angabe von Mindestentgelten in Stelleninseraten ab – Intransparenz.
Über Geld spricht man nicht. Klar, die kollektivvertragliche Unterkante ist bekannt, ob und in welchem Ausmaß überzahlt wird – ein in diesem Kontext kurioses Wort, das insinuiert, dass zu viel gezahlt würde –,ist dagegen meist Gegenstand von Spekulation. „Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit“, hat der dänische Philosoph Søren Kierkegaard einmal gemeint. Völlige Transparenz in Sachen Lohn und Gehalt ist prinzipiell gut, man muss sie aber erst einmal ertragen können. Etwa dann, wenn der Kollege für dieselbe Arbeit besser entlohnt wird oder die Kollegin mehr verdient, obwohl sie kürzer imUnternehmen ist. Wird Gleiches ungleich vergütet, ist das eine Kränkung. Dennoch sind Einheitsgehälter nicht des Rätsels Lösung, da sie leistungsfeindlich sind und keine Anreize bieten, sich besonders zu engagieren.
NEUER LOHN FÜR NEUE ARBEIT?
Unsere Entlohnungsstrukturen, festgezurrt in Kollektivverträgen, die wiederum aus Verhandlungen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite resultieren, stammen aus einer anderen Zeit. Aus einer Zeit, in der Arbeit besser vergleichbar war. Das macht den Kollektivvertrag noch längst nicht obsolet. Er ist zweifellos eine Errungenschaft und eine Erfolgsgeschichte. Standardisierte Gehälter für standardisierte Arbeit, lautet die Gleichung. Verbringen zwei Arbeiter beispielsweise 40 Stunden am Fließband, dann erscheint es auch sinn-voll und vor allem gerecht, sie gleich dafür zu bezahlen. In der modernen Arbeitswelt trifft das allerdings längst nicht mehr auf alle Jobs zu. Die Industriearbeiter sind heute in der Minderheit, die von der Wissensgesellschaft hervorgebrachten Wissensarbeiter auf demVormarsch. Routinearbeiten treten in den Hintergrund,Differenzierung nimmt zu. Das wirft die Frage auf, ob stark differenzierte Arbeit nicht auch nach differenzierteren Entlohnungsmodellen verlangt. „New Work braucht New Pay“, heißt es heutzutage. Erstere gilt als Megatrend, dem ein neues, von der Sinnfrage geprägtes Verständnis von Arbeit in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung zugrunde liegt. Zweites geht von der Prämisse aus, dass diese neue Arbeitswelt auch nach neuen Vergütungsmodellen verlangt. Es gibtSpielräume für Unternehmen, ihre Vergütungsmodelle so zu gestalten, dass diese zur Unternehmenskultur passen. Das, betonen etwa die Autoren des New Pay Report2021, wirke sich positiv auf Wertschöpfung, Innovation und Arbeitgeberattraktivität aus. „Die New-Pay-Dimensionen – Fairness, Transparenz, Selbstverantwortung,Partizipation, Flexibilität, Wir-Denken und PermanentBeta – bieten Organisationen Bezugspunkte, um das Vergütungssystem in Abgleich mit der Unternehmenskultur weiterzuentwickeln“, heißt es im entsprechendenBericht. Mit „Permanent Beta“ ist übrigens die Anpassungs- und Lernfähigkeit von Unternehmen gemeint.Mitarbeiter wissen üblicherweise, wann, wie viel und womit sie bezahlt werden – und je nach Transparenz desUnternehmens vielleicht noch, wie sich das bei anderen verhält. Alles andere liegt meist im Dunkeln. „Die Vergütungsphilosophie, die Ziele und die Strategie, die Vergütungssystemen zugrunde liegen, sind aber ein entscheidender Teil der Unternehmenskultur“, argumentieren die New-Pay-Autoren. Vergütung beeinflusst die Kultureines Unternehmens. „Verhaltensweisen, die Vergütung belohnt, werden zu dominantem Verhalten. Dieses bestimmt dann wiederum, was einer Organisation wichtig ist, wofür sie steht und welche Werte sie vertritt“, wird da argumentiert. Das bedeutet, dass es sinnvoll sein kann, transparent zu machen, was in welcher Art und Weise vom Unternehmen honoriert wird.
GEHALT FÜR EIN GUTES LEBEN
Noch gibt es keine tragfähige Alternative dazu, seine Arbeitskraft auf dem Markt zu verkaufen. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist in weiter Ferne und es ist völlig ausgeschlossen und auch nicht wünschenswert, dass alle Unternehmer werden. Wie viel jemand verdient, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Nicht alle davon sind individuell beeinflussbar. Der vielleicht wichtigste sehr wohl: Je weniger austauschbar man ist, desto besser die Ausgangsposition. Doch selbst für Schlüsselkräfte mit viel Spezialwissen wird es Einkommens unterschiede geben, die daraus resultieren, zu welcher Zeit man am Arbeitsmarkt angekommen ist, in welcher Branche man arbeitet und nicht zuletzt in welchem Teil des Landes. Es soll vorkommen, dass Unternehmen in besonders idyllischen Gegenden informell eine Art Gehaltsabschlag für die dort herrschende hohe Lebensqualität veranschlagen. Diese Strategie ist in einem Arbeitnehmermarkt allerdings zum Scheitern verurteilt und lebt ein Stück weit auch von der verhältnismäßig geringen Arbeitskräftemobilität in Österreich. Man arbeitet meist dort, wo man eben ist, und zieht nicht dorthin, wo man arbeiten möchte.
Letztlich kommt es darauf an, mit dem Einkommen das Auskommen zu finden. Ein gutes Maß dafür wäre das, was man selbst braucht, um ein gutes Leben – dessenDefinition individuell stark variieren wird – führen zu können. Dafür müssen die Rahmenbedingungen stimmen, individuell, gesellschaftlich, politisch und nicht zuletzt wirtschaftlich. Ein gutes Gehalt, das ein gutesLeben ermöglicht und auch positive moralische Gehaltsbestandteile enthält, ist – Arbeitnehmermarkt hin oder her bei weitem kein Selbstläufer.
Text: Marian Kröll