Psychische Erkrankungen gehören weltweit zu den häufigsten Krankheiten von Kindern und Jugendlichen und sind bedauerlicherweise immer noch ein großes Tabuthema unserer Gesellschaft. Zu den am häufigsten vorkommenden psychiatrischen Diagnosen bei Kindern und Jugendlichen zählen Angststörungen, Störungen des Sozialverhaltens, Störungen durch Substanzkonsum, emotionale, hyperkinetische und aggressiv-dissoziale Störungen. Die Covid-19-Pandemie hat die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden unserer Kinder und Jugendlichen in den entscheidenden Entwicklungsjahren zusätzlich negativ beeinflusst und auch in Österreich nehmen psychische Erkrankungen unter jungen Menschen kontinuierlich zu, wie die Ergebnisse der 2021 veröffentlichten Studie „Mental Health problems in Austrian adolescents“ zeigen.
Die besorgniserregende Bilanz: Ein signifikanter Anteil der Jugendlichen in Österreich leidet an psychischen Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen, ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) und Verhaltensstörungen. Besonders auffällig war, dass viele dieser Störungen oft unerkannt und unbehandelt bleiben. Mädchen zeigten eine höhere Prävalenz von Angst- und depressiven Erkrankungen, während Burschen häufiger von ADHS und Verhaltensstörungen betroffen waren. Mit zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit für bestimmte psychische Erkrankungen, insbesondere für depressive Symptome, was auf eine besondere Vulnerabilität im Jugendalter hindeutet. Jugendliche aus sozial und wirtschaftlich benachteiligten Familien waren stärker gefährdet, psychische Gesundheitsprobleme zu entwickeln. Dies deutet darauf hin, dass soziale Faktoren einen großen Einfluss auf das psychische Wohlbefinden haben. Die Ergebnisse der Studie unterstreichen den dringenden Bedarf an Früherkennung, Prävention und Intervention im Bereich der psychischen Gesundheit von Jugendlichen in Österreich.
Kathrin Sevecke ist Direktorin der Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter der Universitätsklinik Innsbruck sowie Abteilungsvorständin der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Landeskrankenhaus Hall und hat unter anderem an der Mental-Health-Studie mitgearbeitet. Im Interview richtet sie einen Appell an Eltern und Erziehungsberechtigte, offen mit dem Tabuthema der psychischen Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen umzugehen und sich – genauso wie bei körperlichen Erkrankungen – so früh wie möglich an die dafür ausgebildeten Fachärzt*innen zu wenden.
eco.nova: Man liest immer öfter, dass neben einem generellen Anstieg psychischer Erkrankungen in Österreich auch Depressionen bei Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen haben. Woran liegt das? Kathrin Sevecke: Leider ist die depressive Symptomatik unter Kindern und Jugendlichen seit Jahren zunehmend und leider werden Depressionen wie auch andere psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen sehr oft zu spät erkannt und in Folge zu spät behandelt. Die Covid-19-Pandemie war ein großer Treiber, aber es gibt zahlreiche weitere Risikofaktoren, die psychische Erkrankungen verursachen oder zumindest mitverursachen. Was Depressionen angeht, so besteht zum einen oft eine familiär bedingte erhöhte genetische bzw. biologische Disposition. Leidet ein Elternteil an einer Depression, so ist das Risiko, dass auch ein oder mehrere Kinder daran erkranken, erhöht. Alleinerziehende Mütter, die zusätzlich zur enormen Alltagsbelastung oft noch unter einem hohen Einkommensdruck stehen, weisen statistisch ebenfalls eine höhere Gefährdung auf, dass sie selbst oder ihre Kinder eine Depression entwickeln. Auch bildungsferne Schichten mit daran gekoppelt oft schwierigen Einkommensverhältnissen erkranken tendenziell häufiger an Depressionen als bildungsnahe Schichten. Das hat natürlich auch mit dem Wissen um psychische Erkrankungen zu tun, das gut gebildeten Menschen eher zur Verfügung steht. Darüber hinaus spiegeln psychische Symptomatiken auch immer gesellschaftliche Entwicklungen und Strömungen wider, und Kinder und Jugendliche sind hier besonders sensibel. Sie reagieren sozusagen wie ein menschlicher Seismograf auf die umgebenden familiären und gesellschaftlichen Einflüsse, denen sie ausgesetzt sind. Die Pandemie mit ihren massiven zwischenmenschlichen Einschränkungen, dem Kontaktverbot, der andauernden Verunsicherung über den Gefahrengrad immer neuer Covidvarianten hat nicht nur viele Kinder und Jugendliche, sondern ebenso viele Erwachsene in einen Zustand der Machtlosigkeit, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit gestürzt. Dazu kommen reale oder medial in einer Art „Katastrophenjournalismus“ geschürte Ängste und weitere gesellschaftliche Entwicklungen wie die gestiegene Arbeitslosigkeit, eine hohe Inflationsrate, die Auswirkungen des Klimawandels, die tägliche Berichterstattung über bedrohlich nahe Kriege und vieles mehr. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang auch die sozialen Medien wie YouTube, Instagram oder TikTok. Social Media werden vor allem von jungen Menschen genutzt und ihr Einfluss auf die Psyche kann verheerend sein. Der ständige Konkurrenzdruck, gut auszusehen, das scheinbar „perfekte“ Leben der anderen, beängstigende Fake-News, Cybermobbing, die Abhängigkeit vom Handy oder ungesundes Serienschauen in Dauerschleife… in Summe zeichnet sich gegenwärtig ein ziemlich düsteres gesellschaftliches Szenario ab, das die Entwicklung von psychischen Störungen und Depressionen auf mehreren Ebenen fördert – und das nicht nur, aber besonders bei den verwundbaren Kindern und Jugendlichen.
Woran erkennt man, dass bei Kindern oder Jugendlichen, die sich gerade in der Pubertät befinden, die Gefahr zur Entwicklung einer Depression besteht? Was sind die Anzeichen, auf die man achten sollte? Krisen in der Pubertät sind ganz normal, wenn man an den Jugendlichen jedoch negative Verhaltensveränderungen bemerkt, die über einen längeren Zeitraum hinweg anhalten, sollte man aufmerksam sein und sich im Zweifelsfall fachärztlichen Rat holen, genauso, wie man das bei länger bestehenden körperlichen Symptomen machen würde. Die Symptome einer beginnenden Depression sind oft Interessensverlust, Antriebslosigkeit, wenn die Kinder nicht mehr oder immer seltener lachen, sich nicht mehr freuen können, sich sozial zurückziehen, von ihren Freunden, von der Familie, sich im Bett verkriechen und nicht mehr aufstehen wollen und das Interesse an vorher gerne ausgeübten Hobbys verlieren. Dazu kommen häufig Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, ein Leistungsabfall in der Schule und ein Gefühl der Traurigkeit und inneren Leere, das auch als „nichts“ fühlen beschrieben wird. Das sind Hinweise für eine depressive Symptomatik. Bei manchen Jugendlichen und Kindern und vor allem bei kleinen Kindern äußern sich Depressionen jedoch auch anders: Sie drücken ihre Gefühle über ihren Körper aus und klagen zum Beispiel wiederholt über Bauchweh, Brustschmerzen, Herz- oder Kopfweh oder auch Atemnot. Es fällt den Kindern und Jugendlichen leichter, über körperliche Beschwerden zu sprechen als über seelische, und sie wissen – bewusst oder intuitiv – um die Tabuisierung von psychischen Beschwerden oder spüren es zumindest. Es gibt also auch zahlreiche körperliche Symptome, die Anzeichen einer depressiven Verstimmung oder beginnenden Depression sein können. Wenn ein Kind über einen längeren Zeitraum hindurch über körperliches Unbehagen oder Schmerzen klagt, eine physische Ursache jedoch trotz gründlicher Untersuchung nicht festgestellt werden kann, ist es wichtig, zu wissen, dass solche Symptome auch Ausdruck einer depressiven Symptomatik sein können. Im Alter von ungefähr 16 Jahren manifestieren sich Depressionen bei Kindern und Jugendlichen am häufigsten. Mädchen und Frauen haben insgesamt eine höhere Prävalenz, an Depressionen zu erkranken.
Wie kann man als Eltern versuchen, Depressionen bei Kindern und Jugendlichen vorzubeugen? Und wohin wendet man sich, wenn man Hilfe braucht? Man kann versuchen, die Risikofaktoren zu minimieren. Die regelmäßige Ausübung von Sport zum Beispiel ist nicht nur für den Körper gesund, sondern ebenso sehr für die Psyche. Sportliche Aktivitäten, vor allem in der Gemeinschaft mit Gleichaltrigen, fördern die Identitätsfindung von Kindern und Jugendlichen, die essenziell ist für eine gesunde psychische Entwicklung. Eine liebevolle familiäre Umgebung ist wichtig, regelmäßige gemeinsame Unternehmungen als Familie oder mit Freunden, ein offenes Gesprächsklima innerhalb der Familie und ein gutes Konfliktmanagement, ein geregelter und strukturierter Alltag, ausreichend Schlaf, eine gesunde Ernährung, kurz alles, was den Kindern und Jugendlichen das Gefühl gibt, geliebt und akzeptiert zu werden, und dazu gehören auch klare Regeln des innerfamiliären Zusammenlebens. Doch selbst im liebevollsten Umfeld können Kinder und Jugendliche eine depressive Symptomatik entwickeln und dann ist es wichtig, sich so rasch wie möglich Hilfe zu holen, und zwar bei einem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Kontaktaufnahme mit Fachärzt*innen stellt für viele Eltern leider immer noch eine sehr große Hürde dar, die sie oft erst überwinden, wenn es fast schon zu spät ist. Dabei gibt es in diesem Bereich ebenso wie bei den niedergelassenen Kinderärzt*innen sowohl Kassenstellen als auch Wahlarztpraxen, wo eine Abklärung der psychischen Beschwerden erfolgt und, wenn notwendig, eine Behandlung eingeleitet wird. Die Diagnostik von psychischen Erkrankungen und die danach anschließenden Behandlungen bzw. Therapien, ob mit oder ohne medikamentöse Begleitung, machen nicht Heilpraktiker*innen, nicht Kinderärzt*innen und auch nicht Psycholog*innen, das machen – und dürfen auch nur – kinderpsychiatrische Fachärzt*innen. Deshalb ist es so wichtig, diese in unserer Gesellschaft offensichtlich immer noch tief verankerte Hemmschwelle zu überwinden. Denn es ist die psychische Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen, um die es hier geht.
Weitere Infos und Hilfe
Ambulanz der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Hall,Tel.: 050504/33836
Niedergelassene Fachärzt*innen für Kinder- und Jugendpsychiatrie mit Kassenvertrag:
Innsbruck: Dr. Sabine Zehetbauer-Erhart, Tel.: 0512/312190
Kufstein: Dr. Sylvia Handl-Moraß, Tel.: 05372/63927
Text: Barbara Liesener