Die fließenden Handbewegungen verraten Könnerschaft. Dass Markus Schlichthärle das Weihrauchfass wie im Schlaf bedienen kann, versteht sich angesichts seines Berufes oder vielmehr seiner Berufung aber irgendwie von selbst. Er ist Franziskanerpater. Pater Markus. Seit Oktober 2021 ist er Guardian im Franziskanerkloster Schwaz, der Obere des Konvents also. Dass der Klostervorsteher bei den Franziskanern Guardian genannt wird, geht direkt auf den Ordensgründer Franz von Assisi zurück. Die lateinische Bezeichnung für Wächter oder Hüter war ihm offenkundig lieber als das sonst für diese Klosterfunktion übliche Superior. Zu Pater Markus passt Guardian auf jeden Fall besser, lässt er mit seiner so herzlichen wie heiteren Art doch jeglichen himmlisch-hierarchisch bedingten Titelrespekt im Nu verpuffen.
Richtung Himmel
„Das ist ein spezieller Weihrauch, der auch für Asthmatiker geeignet ist. Ich bin Asthmatiker und ist der Weihrauch ein Glump, muss ich sofort husten“, erzählt Pater Markus, während er mit einer Feuerzeugflamme am schwarzen Kohlestück zündelt. Hat die Rauchfasskohle erst einmal Feuer gefangen, verteilt sich die Glut darin wie von Geisterhand und sobald sie für ihren Dienst bereit ist, nimmt der Pater den dafür bestimmten Löffel vom Rauchfass-Ständer und verteilt behutsam die Weihrauchkugeln darauf. Rot sind sie, gelb, grün oder braun und das Fass, in dem sie gelagert werden, verrät, dass Pater Markus stets größere Mengen davon benötigt. Kein Wunder, ist der Duft von Weihrauch doch so etwas wie das Parfum der katholischen Kirchen. „Genau. Du riechst es lang und überall. Der Weihrauch findet immer seinen Weg“, sagt Pater Markus und blickt dem feinen Rauch hinterher.
Als würde der Rauch auf unsichtbare Kräfte reagieren, wabert er mal hin, mal her, mal schnell, mal langsam und bildet sich kringelnde Wölkchen, denen satte Wolken folgen, wenn das Weihrauchfass geschwungen und die Glut mit dem Luftstrom angefacht wird. Begleitet von dem so typischen Klingklang des Kirchenutensils steigt der Rauch auf – hinauf. Verlässlich tut er das. Immer. „Oft fehlen uns die Worte, auch im Gebet zu Gott. Da ist es fein, wenn du ein Körndl auf die Kohle gibst und alles hineinlegst, was dein Herz bewegt, belastet oder erfüllt. Und dann geht es Richtung Himmel“, sagt Pater Markus.
Ein schöner Gedanke ist das, so kraftvoll wie das Ritual des Räucherns selbst, das bei so gut wie keinem kirchlichen Anlass fehlen darf. In vielen Kulturen hat das Räuchern immer schon viel Leben begleitet. Ob sich der Rauch nun aus edlem Harz der Levante nährt, das zu Jesus’ Zeiten so wertvoll war wie Gold, oder aus auf heimischen Wiesen und in Wäldern erst gesammelten, dann getrockneten Kräutern – diesem sanften Verbrennen haftet stets Heilsames an. Schon in der Steinzeit haben die Menschen die Wirkung von Heilkräutern „per fumum“, also über den Rauch aufgenommen. Die Kräutersträuße im Herrgottswinkel der Bauernhäuser spendeten das ganze Jahr über das passende Heilkraut für allerlei Wehwehchen sowie Räucherrituale und die Tatsache, dass diese Tradition in vielen Ecken der Welt erhalten geblieben ist, weist auf ihre Urkraft hin – denn die steckt drin.
Großes Theater
An ein paar ganz speziellen Tagen verdichtet sich dieses leise Spiel mit dem Feuer zu großem Theater. Dann, wenn die Tage kurz sind, die Nächte aber lang und die Macht der Dunkelheit auf Seelen und Gemüter drückt. „Die Raunächte“, verrät Pater Markus, „die Raunächte sind eine besondere Zeit, es sind ganz besondere Tage.“ Stimmt. In den Tagen und Nächten zwischen dem 21. Dezember und dem 5. Januar ballen sich kosmische, mythologische, natürliche, himmlische und menschliche Extreme auf außergewöhnliche und auch unheimliche Weise. Und in den Raunächten, die je nach Kulturkreis oder Tradition unterschiedlich angegeben, meist aber in den Nächten des 24. Dezember, 31. Dezember und 5. Januar so richtig zelebriert werden, hilft der Weihrauch dabei, den Extremen mit einem heiligen beziehungsweise heilenden Ritual zu begegnen. Indem Wohnungen, Häuser und Ställe „ausgeräuchert“ beziehungsweise mit Rauch gereinigt und harmonisiert werden, damit das alte Jahr abgeschlossen und das neue mit guten Energien beginnen kann. „Wir gehen am 6. Januar durch alle Gebäude des Klosters – mit Weihrauch und Weihwasser“, erzählt Pater Markus. Der 6. Januar ist nicht nur der Tag der Heiligen Drei Könige, wie Pater Markus weiß: „Der 6. Januar ist der Tag, an dem Christus die ganze Welt erleuchtet, der große Lichttag. In Spanien ist der 6. Januar der Tag, an dem du die Geschenke bekommst, nicht der 24. Dezember.“
Die Daten verwirren ein wenig, doch egal wo und egal wie, in allen Kulturen hatten und haben sie eine außergewöhnliche Bedeutung. „Da ist das Christentum den Kelten, Germanen und Alemannen sehr nahegekommen. Man geht ja nicht davon aus, dass Jesus wirklich am 25. Dezember geboren wurde“, erklärt Pater Markus und weist auf das Weihnachtsevangelium hin, in dem von Hirten gesprochen wird, die auf dem freien Feld lagerten, was nicht in den Winter passe: „Es war eine ganz bewusste Entscheidung, den Heiligen Abend am 24. und das Weihnachtsfest am 25. Dezember zu feiern, weil das der Tag ist, an dem wir göttliche Hilfe ganz besonders brauchen und die Macht der Dunkelheit durch die Macht des Lichtes, also durch Christus, durchbrochen wird.“ Die Sehnsucht nach Licht bestimmt die Dramaturgie. Vor allem in den Alpenländern tut sie das, wo die Berge schwere Schatten werfen und dem Sonnenschein oft über viele Wochen nicht den Funken einer erhellenden Chance lassen. Zwischen dem 21. und dem 24. Dezember steht die Sonne am tiefsten. Das sind die Tage, an denen am wenigsten Energie in der Natur ist, bis die Sonne am 24. wieder neu geboren wird und mit ihr alle Hoffnungen. „Es ist finster, kalt und auch ein wenig unlebenswert. Finsternis, kein Licht, keine Wärme, gar nichts – das sind Urängste der Menschen und in diesen Tagen merkt man, dass es ans Eingemachte geht“, weiß Pater Markus und hält fest: „In den Raunächten kommt alles zusammen, die ganzen Ängste und Bedürfnisse der Menschen spielen eine große Rolle.“
Als die Welt noch nicht durchelektrisiert war, wirkte diese Dunkelzeit natürlich noch viel tiefer und gruseliger, doch haben die schon lange und überall präsenten Lichtquellen die dunklen Jahresende-Kräfte nicht ausgelöscht. Gar nicht. Die emotionalen Urgeschichten, von denen Pater Markus spricht, bleiben bestimmend für diese Zeit. Das Bedürfnis, das vergangene Jahr Revue passieren zu lassen etwa, es gut aufgeräumt, schulden- wie schuldfrei abzuschließen, hat sich nicht zuletzt in den ganz schnöden Mammonwelten verfestigt, wo der 31. Jänner vielfach Stichtag für die Buchhaltungen ist.
Es ist auch nicht schwer geworden, den Geschichten zu folgen, mit denen die Menschen ihren Ängsten angemessen wild Luft machten. Da ist die wilde Percht unterwegs. Der Teufel ist los. Das Schlechte schleicht um die Häuser und damit es sich nicht in den Lebensräumen guter Menschen verfängt, darf in den Raunächten keine Wäsche in den Häusern hängen. Die Percht ist die Göttin der Anderswelt, die Anführerin der wilden Jagd und Göttin der Raunächte. Anderswelt passt ziemlich gut, ist die Zeitspanne, die gerne als „zwischen den Jahren“ bezeichnet wird, doch eine Art Unzeit. „Der Mondkalender deckt sich nicht mit dem Monatskalender – eigentlich ist das Jahr schon zu Ende“, so Pater Markus. Der germanische Mondkalender beschreibt das Jahr mit zwölf Mondmonaten und 354 Tagen. Demnach geht das Jahr mit dem 20. Dezember zu Ende, dem Tag mit der längsten Nacht des Jahres, dem Tag der Wintersonnenwende. Die Differenz zu unserem Sonnenkalender beträgt 11 Tage beziehungsweise 12 Nächte. 12 Nächte außerhalb der Zeit. Die Raunächte.
Text: Alexandra Keller
Fotos: Isabelle Bacher