Am Sonntagmorgen versteht man in Hall kaum sein eigenes Wort. Denn schon in aller Herrgottsfrüh schallt aus allen Himmelsrichtungen Glockengeläut durch das oft als „Mittelalter-Perle“ titulierte Städtchen, in dem Langschläfer das Nachsehen haben. Hier, wo neben der Pfarrkirche St. Nikolaus auch noch die Jesuitenkirche, die Franziskanerkirche und die Herz-Jesu-Basilika das schmucke Stadtbild sicht- und hörbar prägen, ist es nun mal nicht leicht, sündig lang auszuschlafen. Wobei alteingesessene Haller*innen standhaft behaupten, dass sie die klerikalen Weckrufe längst nicht mehr aus der Ruhe bringen. Vielmehr schrecken sie auf, wenn in den Ostertagen kurzzeitig mal kein Glockenton durch jene Stadt hallt, in der an allen Ecken und Enden Geschichte steckt. So erinnert ein kunstvolles Mosaik an der Hauswand des einstigen Gerichtsgebäudes in der Milser Straße an den ehemals hier ansässigen Universalgelehrten Hippolyt Guarinoni, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts nicht nur lebensrettende Hygienemaßnahmen ersann, sondern auch die böse Saat für den antisemitischen Anderl-von-Rinn-Kult säte. Wer beim Erkundungsgang durch die Stadt genauer hinschaut, entdeckt an so mancher historischen Fassade aber auch ominöse Eisenklammern. Diese gemahnen an das Schreckensjahr 1670, in dem in Hall die Erde so heftig bebte, dass kaum ein Stein auf dem anderen blieb und neben etlichen Bürgerhäusern auch der eingestürzte Turm der Pfarrkirche neu aufgebaut werden musste und der barocke Baustil Einzug ins bislang gotische Erscheinungsbild hielt.
Schon bei der Fahrt über die Autobahnbrücke erspäht man mit dem Münzerturm das Wahrzeichen der Stadt, die sich die Wiege des US-Dollars nennen darf. Geht dieser doch auf den in der Burg Hasegg geprägten und rund um die Welt gereisten Taler zurück. Darauf ist man „ze Halle“, das 1256 erstmals urkundlich erwähnt und anno 1303 zur Stadt erhoben wurde, leidlich stolz. Seinen wirtschaftlichen Aufschwung soll das Städtchen am Inn indes einem aufmerksamen Ritter und salzhungrigen Hirschen zu verdanken haben: Der Legende nach sei dereinst nämlich Ritter Nikolaus von Rohrbach auf der Pirsch ins Gespräch mit hiesigen Jägern gekommen, die ihm von einer eigentümlichen Beobachtung erzählten. An einem Felsen im Halltal würden sie immer wieder ein Rudel Rotwild sehen, das gierig an den Steinen leckte. Der Edelmann tat’s den Tieren gleich und freute sich über den würzigen Nachgeschmack seiner Felsforschung, die im 13. Jahrhundert den Grundstein für den Salzabbau legte, der erst 1967 eingestellt wurde. Geblieben sind die beiden Löwen im Haller Stadtwappen, die sich mit ihren Pranken an einem Salzfassl festkrallen.
Dabei handelt es sich übrigens um die bislang einzige Löwensichtung in der mehr als 700-jährigen Historie der Salzstadt, in die sich Besucher*innen sogleich schockverlieben. Die verwinkelten Gassen und weitläufigen Plätze der malerischen Altstadt – ihres Zeichens die größte in ganz Nordtirol – sind nämlich nach wie vor frei von krachlautem und grausligem Tourismuskitsch. Vielmehr hat man das Gefühl, in einem authentischen Freiluftmuseum gelandet zu sein, das einen das ganze Jahr hindurch bezaubert. Das schätzen auch die knapp 14.500 Haller*innen, unter die sich auch so manches Unikat gemischt hat.
Rauschebart und Taubenfrau
Wer in Hall aufgewachsen ist, wundert sich längst nicht mehr über den hageren Herrn mit Rauschebart, knorriger Stimme und extrava- gantem Kleidungsstil, der am Oberen Stadtplatz gern freimütig über Gott und die Welt parliert. Monty-Python-Legende John Cleese, der vor ein paar Jahren beim Literaturfest „Sprachsalz“ zu Gast war, blieb indes kurz die Spucke weg, als ihm bei seinem Walk-around ein Kerl im Piratenlook ein laustarkes „Hi John“ entgegenschmetterte. Doch Hall ist auch die Heimat der „Taubenfrau“, die sich aufopfernd ums gurrende Federvieh kümmert und etwaige Kritik daran geflissentlich überhört. Wer die Postleitzahl 6060 in der DNA hat, dürfte obendrein einem nunmehr im Ruhestand befindlichen Straßenkehrer zugejubelt haben, als dieser noch forsch vom Sprungturm des gerade im Umbau begriffenen Schwimmbads hechtete. Dass man dort – und wirklich nur dort – „Zehner hupft“ zu brüllen hat, wenn man von ganz oben ins Becken springt, ist eine Haller Eigenart, für die man andernorts belächelt wird. Sei’s drum: Warum immer mit dem Strom schwimmen, wenn man auch ein wenig anders sein kann?
Das hat sich wohl auch Grafikerin Katrin Stiller gedacht, die in der Arbesgasse mit dem „Büro im Laden“ einen stylishen Concept Store betreibt, den man – ob man will oder nicht – stets mit einem neuen Lieblingsstück verlässt. Das hippe Ladele samt individuellem Sortiment würde auch gut nach Berlin passen. Nur gäb’s hier wohl keinen verglasten Blick auf eine historische Latrine. Gutes Stichwort: In der Eugenstraße, wo einst die sogenannten „Fetzweiber“ den Inhalt des öffentlichen Pissoirs zur Salmiakfabrik vor die Stadt karrten, duftet es nun verführerisch nach lukullischen Köstlichkeiten. Was auf die Haube des mit drei Miche- lin-Sternen ausgezeichneten Spitzenkochs Johannes Nuding geht, der sein Handwerk in Toprestaurants in Paris, Moskau und London verfeinert hat, ehe er 2022 wieder in die Haller Heimat zurückkehrte, wo er im 400 Jahre alten Familienbetrieb „Schwarzer Adler“ Haute Cuisine mit Soul-Food mischt.
Eine Kleinstadt kann also durchaus auch urban sein – und sogar einen Vulkan beherbergen. So brodelt in der Krippgasse seit 1989 das Feuer im „Kulturlabor Stromboli“, wo ein kunterbuntes Kulturprogramm Klein und Groß in seinen Bann zieht. Just aufs selbe Jahr geht auch die Gründung des international renommierten „Osterfestival Tirol“ zurück, das der „Galerie St. Barbara“ zu verdanken ist, die obendrein die Veranstaltungsreihe „musik+“ ins Leben gerufen hat. Überhaupt scheint Hall ein fruchtbarer Boden für Kultur zu sein: So gewann zuletzt das „Theater Szenario“ den Tiroler Volksbühnenpreis, über den sich 2012 schon das Freiluftensemble der „Haller Gassenspiele“ freuen durfte. Spannende literarische Akzente werden überdies jedes Jahr im September gesetzt, wenn das Festival „Sprachsalz“ hochkarätige Autor*innen ins Parkhotel lockt, wo der denkmalgeschützte Welzenbacherturm mit dem markanten Glasturm vom Architektenduo Henke & Schreieck eine außergewöhnliche architektonische Einheit bildet.
Zu erzählen gäbe es über Hall noch viel. Aber am besten macht man sich selbst ein Bild vom konturenreichen Gesicht dieser großartigen Kleinstadt. Wer noch nie hier war, wird wiederkommen wollen. Wer hier lebt, will auch hier bleiben. Ich spreche aus Erfahrung.
Text: Christiane Fasching
Fotos: TVB Hall-Wattens