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Life

Den höchsten Berg vor Augen

1.8.2023

Erfahren, abgebrüht und wettergegerbt hat Andy Holzer schon die höchsten Gipfel der Welt bestiegen. Nicht zum ersten Mal sitzt der Autor an Andy Holzers Wohnzimmertisch im Osttiroler Dorf Tristach. Beim letzten Gespräch, das vor gut zehn Jahren stattgefunden hat, sagt Holzer, der eben erst sechs der Seven Summits bestiegen hatte, über den höchsten Berg der Welt, dass ihn dieser letzte, höchste und zugleich berühmteste Gipfel nicht besonders interessiere. „Das habe ich damals tatsächlich behauptet“, gibt Holzer zu, „und heute weiß ich auch genau, warum.“

Mittlerweile war Andy Holzer am Gipfel des Mount Everest. Drei Anläufe hat er dafür gebraucht. „Das Gehirn hat in seinen zahlreichen Windungen eine Art Selbstschutzmechanismus eingebaut, der uns davor bewahrt, Dinge unternehmen zu wollen, die uns nicht machbar erscheinen“, meint Holzer, der als Blind Climber heute ein weltweit gefragter Keynote-Speaker ist und mit seinen Vorträgen dazu antritt, den Sehenden die Augen zu öffnen, wie es auf seiner Website heißt. Was dem Menschen als unüberwindbare Hürde erscheint, vermeint er nicht unbedingt zu brauchen. Das scheint zunächst eine praktische und pragmatische Funktion zu sein, die vor Enttäuschungen und Gefahren schützt.

Der physische Everest

Bis heute haben erst drei blinde Menschen den Mount Everest bezwungen, Andy Holzer war der zweite – und zugleich der erste an der Nordroute – und erreichte am 21. Mai 2017 das höchste der Gefühle für die meisten Bergsteiger: Eben jenen Berg, von dem er sich lange eingeredet hatte, er würde ihn nicht brauchen. Und wie er sich geirrt hat.

Reinhold Messner hat den Everest ohne Zuhilfenahme von künstlichem Sauerstoff erreicht, Andy Holzer ohne die Zuhilfenahme von Licht. Beides ist für sich genommen eine herausragende Leistung. „Viele Menschen scheitern daran, an sich zu glauben, dabei ist jeder Einzelne etwas ganz Besonderes, ein Unikat in einem unendlichen Universum. Kein Mensch kann genau das, was der andere kann“, findet Holzer, dem man anmerkt, dass er sich gerne und ausgiebig mit der Conditio humana auseinandersetzt und es sich zur Berufung gemacht hat, Menschen zu motivieren, ihnen Mut zuzusprechen und ihnen dabei zu helfen, sich zu emanzipieren.

Zum Höhenbergsteigen braucht es einen eisernen Willen und einen Körper, der – wie Holzer betont – überdurchschnittlich gut funktioniert: „Bei einem Vollblinden ist jeder zweite Tritt ein Fehltritt, das kostet enorm viel Energie, physisch und mental.” Außerdem braucht es einen überdurchschnittlich gesunden finanziellen Background. Eine derartige Expedition ist teuer, und Andy Holzer hat auch dank einiger Sponsoren nicht nur seine eigenen, sondern auch die Auslagen seiner Begleiter finanziert. Das ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. Ohne Begleiter, auf die man sich hundertprozentig verlassen kann, ist so eine Unternehmung am Himalaya nämlich völlig aussichtslos. „Ich kann nicht einfach in einen Flieger steigen und in Kathmandu einmal schauen, wen ich dort so antreffe. Wer auf den Everest möchte, sorgt für die besten Voraussetzungen. Ein Blinder spielt in dieser Gleichung normalerweise keine Rolle“, weiß Holzer.

„Hast du erst einmal Kohle und Körper beisammen, ist die Geschichte aber noch längst nicht gegessen.“ Ein Blinder, der sich in höchste Höhen begibt, ist nun einmal kein Selbstläufer. Es ist schwierig, Mitstreiter zu finden, die die Zeit – ein Everest-Trip dauert immerhin neun Wochen – investieren können und sich der Kritik aussetzen wollen, mit einem Blinden im Gepäck in der Todeszone ein derartiges Wagnis einzugehen. Seinen wohl wichtigsten Mitstreiter gewinnt Holzer ausgerechnet im Rahmen einer Charityveranstaltung im heimatlichen Tristach in Gestalt von Wolfgang Klocker. „Ein Spitzensportler und Heeresbergführer, der für mich vor dieser Veranstaltung im Dorfsaal nicht greifbar gewesen ist. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass es ihn reizen würde, mit mir auf Expedition zu gehen“, erzählt Holzer, der zunächst sprachlos ist. Bald kristallisiert sich heraus, wohin die Reise gehen soll. Nach ganz oben, auf das Dach der Welt, den Mount Everest.

Andy Holzer unternimmt seinen ersten Anlauf mit Wolfgang Klocker, dem einstigen Weggefährten Andreas Unterkreuter, Daniel Kopp und einem dreiköpfigen Team der ARD. Doch die Natur legt gegen Holzers Gipfelsieg ihr Veto ein. Als dieser mit Gefährten im Basislager ankommt, ereignet sich das bislang schwerste Unglück auf dem Mount Everest. Eine Lawine löst sich auf einer Höhe von 5.800 Metern im sogenannten Popcorn-Feld und fordert 16 Menschenleben. „Emotional war das ein Wahnsinn. Wären wir einen Tag früher aufgebrochen, hätte es uns genauso erwischt“, blickt Holzer zurück, der mit Wolfgang Klocker noch im Flieger nach Hause den Entschluss fasst, es noch einmal zu versuchen. Diesmal, 2015, von Tibet aus, auf der Nordseite des Eve-rest, gemeinsam mit Klocker und dem ebenfalls versierten Bergführer Klemens Bichler. „Ich habe gewusst, dass ich die besten Partner hatte, die man sich nur vorstellen konnte“, schwärmt Holzer. Doch auch beim zweiten Mal sollte es nicht sein. Als Holzer & Co. sich auf 6.400 Metern Seehöhe befinden, wird die Gegend von einem Erdbeben der Stärke 7,9 erschüttert, das in Tibet verheerende Zerstörungen anrichtet. „Wir durften aufgrund der Nachbeben eine Woche lang nicht absteigen“, erinnert sich Holzer, der aber auch diesen folgenschweren Wink des Schicksals nicht als Zeichen interpretiert, den Everest bleiben zu lassen.

Zwischendurch schien er zwar mit dem höchsten Berg der Welt seinen Frieden gemacht zu haben, doch der Everest ließ ihn nicht mehr los. Beim dritten Versuch sollte es schließlich mit dem Gipfelsieg klappen. Am 21. April 2017, drei Wochen nach Holzers Abreise aus dem heimatlichen Osttirol gen Tibet, stirbt sein Vater. „Ich bin im Lager unter einer staubigen Plane gelegen und habe nicht gewusst, wie mir geschieht. Andy, wir gehen mit dir entweder auf den Friedhof oder auf den Gipfel, haben meine Partner damals zu mir gesagt“, erinnert Andy Holzer sich bewegt. Die Mutter bestärkt trotz des Schicksalsschlags ihren Sohn darin, weiterzugehen und damit gewissermaßen den Weg zu vollenden, den seine Eltern für Andy Holzer erst geebnet hatten. Sie haben ihren Sohn nämlich nie anders, nie wie ein behindertes Kind behandelt, sondern ihm beigebracht, dass auch der Blinde unter den Sehenden König sein kann.

Am 21. Mai 2017 um 7:20 Uhr Ortszeit legen Holzer und seine Bergkameraden sich schließlich die Welt zu Füßen. Gipfelsieg am Everest! Eine ungeheure Leistung, zunächst individuell und dann vor allem als Team. „Steilheit, Schwierigkeit, Höhe, Wetter, Eisqualität, diese und viele andere Faktoren sind beim Höhenbergsteigen zu beachten. Für die Blindheit, ein weiteres Kriterium im Team, bin eben ich der Spezialist. Als Benachteiligter sehe ich mich deswegen aber nicht“, sagt Holzer selbstironisch.

Der innere Everest

„Wenn du in die Verlegenheit der Gelegenheit kommst, beginnt das Gehirn zu arbeiten und Lösungen zu generieren. Das gilt für alle Menschen, die – beruflich oder persönlich – unter ihren Möglichkeiten bleiben. Ich treffe viele Menschen, die ein Wahnsinnspotenzial haben, aber viel zu wenig daraus machen“, formuliert Holzer, nun ganz im Duktus des Motivational Speakers, in dem er sich merklich wohl fühlt. Der Kletterer hat es sich zur Aufgabe gemacht, Möglichkeitsräume zu eröffnen, nicht nur für sich selbst, sondern vor allem für andere: „Weil ich sehe, wie viele andere blind durch die Gegend laufen.“ An Fokus mangelt es Holzer ganz gewiss nicht, davon zeugt sein ständiger Vorwärts-, besser gesagt Aufwärtsdrang. The Sky is the Limit. „Aus heutiger Sicht habe ich den Everest sehr wohl gebraucht“, meint der Bergsteiger rückblickend. „Der Berg hat mich geprägt, verändert, entwickelt und aus meiner Feigheit herausgebracht.“

Berge sind wahrlich stille Meister. Schweigsame Schüler machen sie aber nicht zwangsläufig. Andy Holzer hat nämlich eine Botschaft vom Dach der Welt mitgenommen, die als Metapher universelle Gültigkeit beansprucht: „Der Everest steht nicht irgendwo in Asien. Jeder trägt seinen persönlichen Everest mit sich herum. Dieser will erforscht und entdeckt und im besten Fall schließlich bezwungen werden“, sagt Holzer, der im Laufe seines Lebens ein feines Sensorium dafür ausgebildet hat, was es bedeuten könnte, ein Mensch zu sein. Wo Erfolg ist, gibt es Neider. Leider. Bis heute sieht Holzer sich mit Zweifeln an seiner Blindheit konfrontiert. Das ist freilich grotesk. „Mit dem, was ich mache, passe ich vielleicht manchen Menschen nicht in ihr Weltbild hinein“, meint der Alpinist achselzuckend. Er werde als Keynote Speaker weltweit aber nicht wegen seiner bergsteigerischen Leistungen gebucht, sondern wegen seiner Botschaft, sagt Holzer: „Ich versuche, nicht meine Geschichte zu erzählen, sondern meinen Zuhörern einen Zugang zu ihrer Geschichte, zu ihrem eigenen Everest, zu öffnen.“ Der Berg dient Andy Holzer dabei als Metapher, als Lehrmeister und als ehrlichster aller Feedbackgeber. „Die Berge“, schließt Andy Holzer, „sie haben mir Klarheit gegeben.“

Und so ist aus dem Mittfünfziger Andy Holzer im Laufe der Zeit gewissermaßen selbst ein „Bergführer“ geworden, der die Menschen ans Seil nehmen und an ihren eigenen, inneren Everest heranführen kann. Auch diese Tour auf den höchsten mentalen Gipfel ist beschwerlich. Lohnend ist sie allemal.

Text und Fotos: Marian Kröll

Aus: Tirol Magazin Sommer 2023

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