Gerrit Prießnitz ist Chefdirigent des Tiroler Landestheaters, Susanne Fohr Orchesterdirektorin des Tiroler Symphonieorchesters Innsbruck. Beide sind seit September 2024 in ihren Rollen.
Hineingeboren in eine musikaffine Familie ist Susanne Fohr schon früh mit Musik in Berührung gekommen. Aufgewachsen mit drei älteren, Instrumente spielenden Brüdern, erlernte sie im Alter von viereinhalb Jahren Geige und Klavier und spielte rasch in einem Orchester. Es hätte eine klassische Musikerinnenkarriere werden können: „Ich hatte immer viel Spaß dabei, habe allerdings bald festgestellt, dass es mir mehr Freude bereitet, zwar mit guten Leuten, aber nicht professionell zu musizieren.“ Fohr studierte Jura und begann nach dem zweiten Juristischen Examen im Staatstheater Mainz zu arbeiten, 2007 übernahm sie ihr erstes Orchester als Orchesterdirektorin. „Meine Erinnerungen sind ganz anders“, erzählt Gerrit Prießnitz, „insofern, als dass ich aus überhaupt keinem musikalischen Elternhaus kam.“ Es war ein Zufall, dass der Familie ein Klavier vererbt wurde, das schließlich in die Obhut des Erstgeborenen fiel. Dazu kam eine Klavierlehrerin, die ob ihres Auftretens so gar nicht in den gutbürgerlichen Haushalt passte, jedoch etwas im damals achtjährigen Gerrit Prießnitz auslöste: „Sie hat etwas in mir geweckt, das vorher nicht da war und mich sehr ansprach.“ Relativ früh erkannte eben jene Lehrerin, dass er zwar ganz gut Klavier spielte, aus ihm aber dennoch kein Pianist würde. Sondern Dirigent. Sie sollte recht behalten.
In Innsbruck sind die Geschichten von Gerrit Prießnitz und Susanne Fohr im vergangenen Jahr aufeinandergetroffen. Wir haben die beiden im Haus der Musik Innsbruck besucht und bald gemerkt, dass zwischen dem Führen eines Betriebes und dem Leiten eines Orchesters auffallend viele Parallelen bestehen. Es geht um ein achtsames Miteinander, um das Vertrauen auf das Können des anderen, um Freiheiten und Grenzsetzung und darum, aus der Summe der Einzelteile mehr zu machen als ein großes Ganzes. Und: Führung braucht Erfahrung.
eco.nova: Was braucht es, damit ein Orchester funktioniert? Gerrit Prießnitz: Unterm Strich geht es darum, aus einem großen Ganzen mehr zu machen als die Summe seiner Teile. Die Fragen für mich als Dirigent sind: Was will ich mit dem Stück, was soll passieren, welche Stimmung und Atmosphäre möchte ich erzeugen? Folglich muss ich es schaffen, dass selbst Orchester, die schon lange gemeinsam spielen und im wahrsten Sinne eingespielt sind, mir in meiner Interpretation folgen. In einem Orchester geht es um mehr als nur darum, die Noten zu lesen, den passenden Auftakt zu geben oder das richtige Tempo zu wählen. Es geht um Kommunikation. Wie dosiere ich meine Energie, mit wem kommuniziere ich wann und auf welche Weise.
Wie geht man damit um, wenn man in ein solches eingespieltes Orchester kommt? Wie balancieren Sie Ihre eigene Vision mit der Interpretationstradition eines Werkes? Setzt man die Erfahrungen auf Null zurück und beginnt gänzlich von vorne? Gerrit Prießnitz: Ich nehme immer gerne an, was ein Orchester mir anbietet. Es ist mit einem bestimmten Ansatz gewachsen, und das hat seinen ganz eigenen Wert. In der Folge beginnt man behutsam Veränderungen vorzunehmen, man probiert ein anderes Tempo, feilt an der Artikulation, mischt manche Klänge neu, doch immer mit Respekt vor dem Bestehenden. Wenn Musiker*innen wissen, was zu tun ist, bringt das auch eine gewisse Sicherheit, gleichzeitig ist es für das Orchester wichtig, Neues zu probieren. Sonst sitzen wir irgendwann nur mehr unsere Zeit ab.
Kommt es vor, dass man Sie fragt, wozu es Sie als Dirigenten überhaupt braucht? Gerrit Prießnitz: Ja, durchaus. Es ist nicht allzu lange her, dass mich ein Taxifahrer danach gefragt hat. Die Musiker*innen hätten doch alle studiert und wüssten, wie man Noten liest und Stücke spielt. Damit hat er natürlich recht. Es gibt Dinge unterhalb einer gewissen Komplexitätsschwelle, sie sind für jeden Einzelnen zu bewältigen, trotzdem muss es in einer Gruppe eine Führungspersönlichkeit geben, damit alle in dieselbe Richtung gehen. Selbst wenn keiner mit einem Taktstock vor dem Orchester stünde, würde einer aus dem Orchester diese Funktion innehaben (müssen). Wenn 24 Musiker*innen nach 24 persönlichen Tempoempfindungen spielen, wäre das Stück nach dem ersten Takt zu Ende. Durch immer selektivere Auswahlverfahren gibt es heute kaum mehr schlechte Orchester. Alle Musiker*innen sind professionell ausgebildet und beherrschen ihre Instrumente perfekt. Dirigent*innen können deshalb auf eine technokratische Weise heutzutage mehr abrufen als je zuvor. Das ist allerdings noch keine Musik. Die entsteht erst, wenn diese technische Präzision durch Ausdruck und Interpretation geformt wird.
Dirigent*innen brauchen eine Vielzahl an Fähigkeiten: Einerseits die „hard facts“ wie fachlich-technisches Verständnis oder musikalisches Wissen, andererseits „softe“ Kompetenzen wie Kommunikationsfähigkeit und Empathie. Welche Rolle spielt die Erfahrung? Susanne Fohr: Früher durchliefen Dirigent*innen eine wahre Ochsentour. Man hat als Assistent und Korrepetitor angefangen, bekam eine Dirigentenverpflichtung und hat alle Leute im Haus kennengelernt. Man hat nicht gleich die Premieren oder Chefstücke dirigiert, sondern klein angefangen. Man hat gelernt, die Zusammenhänge und die Musik damit auf eine ganz andere Weise zu begreifen. Viele Dirigent*innen, die heute auf dem Zenit ihrer Laufbahn stehen, haben dieses Prozedere durchlaufen. Sie kennen jedes aufgeführte Stück aus dem Effeff, jede Eigenheit ihrer Musiker*innen und Sänger*innen. Das klingt nicht sonderlich glamourös oder sexy, doch erst aus dieser Verlässlichkeit bekommt das Musizieren seine Freiheit. Heute gewinnen junge Leute einen Dirigierwettbewerb, die es früher in dieser Form und Vielzahl nicht gab, sie werden gehypt und dirigieren zum Beispiel ein halbes Jahr später „Ein Heldenleben“ mit dem Cleveland Orchestra, ohne jemals zuvor mit einem großen Orchester gearbeitet zu haben. Das ist ein Problem. Ich glaube, dass es trotz der heute sehr diversen Karrierewege wichtig ist, eine Basis zu schaffen, auch wenn es an Attraktivität verloren hat, einen Beruf von der Pike auf zu lernen. Erfahrung zu sammeln, kann man jedoch nicht überspringen. Damit geht Substanz verloren. Und damit Wissen und Qualität.
Wie bereiten Sie sich auf ein Stück vor, insbesondere wenn es sich um eine weniger bekannte Komposition handelt? Gerrit Prießnitz: Die Vorbereitung hat bei mir weniger mit der Bekanntheit eines Stückes zu tun. Ich schlage ein Werk auf und habe unmittelbar ein gutes Gefühl oder ich weiß, ich muss es mir Stück für Stück erarbeiten, damit es Gestalt annimmt. Es gibt Komponisten wie Strauss oder Britten, deren Stücke sich mir quasi vom ersten Takt an von allein erschließen, und es gibt Offenbach, den ich enorm schwierig finde und zu dem ich anhand meiner Erfahrung und Ausbildung erst eine Verbindung herstellen muss.
Ist das ein Prozess, den Sie mögen? Gerrit Prießnitz: Ich mag beides, obwohl es schon sehr schön ist, wenn sich gleich ein vertrautes Gefühl einstellt. Es passiert auch äußerst selten, dass ich mich mit einem Stück anfreunde, wenn es mir von Anfang an Schwierigkeiten bereitet. Und man muss auch ehrlich sagen: Manche Werke wurden völlig zu Recht vergessen. Würde ich mein dirigiertes Repertoire durchforsten, gäbe es durchaus manche Stücke, die ich kein zweites Mal aufführen wollen würde. Auf der anderen Seite entbinden einen ja solche Stücke nicht von seinem Vertrag. Ich muss es auch dann zur Aufführung bringen, wenn ich von dessen Qualität nicht überzeugt bin. Und man kann dem Orchester nichts vormachen. Dann ist es meiner Erfahrung nach klüger, zu sagen, okay, das wird nun vielleicht für uns alle nicht unser Lieblingsstück, aber wir gehen da gemeinsam durch, lösen das professionell und holen heraus, was herauszuholen ist. Aufgeben ist keine Lösung. Und in der Regel auch keine Option.
Wie viel Risiko kann man eingehen bzw. wie sehr kann man sein Publikum in Bezug auf die Werksauswahl sowie die Interpretation (heraus)fordern? Susanne Fohr: Die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung sind heute extrem vielfältig. Die Frage ist also: Wie bekomme ich die Leute zu uns? Mit ausschließlich Altbewährtem funktioniert das nicht. Demgegenüber gilt es Erstaufführungen oder ein zeitgenössisches Programm wohl zu dosieren. Wir sind also stets gefordert, einem breiten Publikum gerecht zu werden und dabei auch schon die jungen Menschen abzuholen. Theater und Orchester würden im deutschsprachigen Raum allerdings nicht zu einem großen Teil von der öffentlichen Hand finanziert, wenn sie nur reinen Unterhaltungszweck hätten. Wir haben auch einen Kulturauftrag, der sich dem Erhalt unseres kulturellen Erbes widmet, wir haben einen Bildungsauftrag im Sinne dessen, dass jemand, der Beethovens 5. Sinfonie noch nie gehört hat, sie auch zu hören bekommt und das Ganze soll natürlich nicht vor leeren Reihen stattfinden. Man muss also das Publikum mitnehmen. Dieses Dreieck müssen wir bei der Programmgestaltung ständig neu austarieren.
Gerrit Prießnitz: Ich persönlich bin ja sehr für Risikofreude und der festen Überzeugung, dass sie sich auszahlt, wenn die Qualität stimmt – des Stücks und der Wiedergabe. Unser Job ist es, überzeugend zu spielen und eine Stimmung zu erzeugen, die das Publikum erreicht. Dann glaube ich, kann man diesem Dreieck aus Kultur- und Bildungsauftrag und dem Erreichen des Publikums auch mit Risiko gerecht werden.
Susanne Fohr: Bei schwierigeren Stücken, die sich vielleicht nicht auf den ersten Blick erschließen, macht es durchaus Sinn, zusätzlich mit Moderation und Erklärungen zu arbeiten. Unsere Einführungen, die vor vielen Aufführungen stattfinden, werden gerne angenommen. Es gibt in unserem Haus zahlreiche Vermittlungsprojekte, die schon bei Kleinkindern ansetzen. So öffnen sich plötzlich selbst große Werke, die manchmal unzugänglich scheinen, in die Breite. Wird man in ein Stück hin- und eingeführt, können viele Hürden abgebaut werden. Wichtig ist es, das Publikum auf die Reise mitzunehmen und ihnen eine Erlebnisqualität zu bieten, die sie weder in der Kneipe noch im Stadion und schon gar nicht vor dem Bildschirm geboten bekommen. Junge Leute versuchen wir über kreative Formate zu erreichen. Im vergangenen Jahr haben wir zum Beispiel einen Poetry-Slam mit einer Mendelssohn-Symphonie kombiniert, im nächsten Jahr ist ein Beatboxer zu Gast. Wir versuchen unsere Programme so zugänglich und ansprechend zu gestalten, dass es die Menschen begeistert und sie im besten Fall dauerhaft zu unserem Publikum werden. Wir müssen ihnen neue Welten eröffnen und ihnen Möglichkeiten bieten, um über Vertrautes hinauszuschauen, Neues zu erleben und zu fühlen. Indem wir über unser Angebot neue Assoziationen, Wahrnehmungen und Erkenntnisse fördern, bieten wir eine wichtige Alternative zu algorithmusgesteuerter Unterhaltung und Information.
Welche Rolle spielt die (Hoch-)Kultur generell in einer Gesellschaft? Susanne Fohr: Kunst und Kultur sind kein „nice to have“, sondern essenziell für unsere Demokratie, die Wertehaltung unserer Gesellschaft und das Sozialgefüge. Sie sind wichtig, um Traditionen weiterzuführen und zugleich immer wieder Neues zu schaffen, kreativ zu sein, Diskussionen anzuregen und sich mit sich selbst und seinen eigenen Ansichten auseinanderzusetzen.
Gerrit Prießnitz: Da stimme ich dir prinzipiell zu. Natürlich ist es wünschenswert, wenn Kultur in die Gesellschaft hineinwirkt – im besten Fall positiv. Darüber hinaus glaube ich, sollten wir jedoch selbstbewusst genug sein, in der Kultur selbst einen Wert zu sehen und sie nicht nur hinsichtlich ihres soziologischen Nutzens zu betrachten. Kultur ist etwas genuin Öffentliches, deshalb stellt sich für mich auch die Frage nicht, ob sie öffentliche Unterstützung verdient. Ich bin der Letzte, der immer gleich nach dem Steuerzahler oder dem Staat schreit, Kultur ist jedoch nicht das Sahnehäubchen, sie ist Substanz.
Müssen Kunst und Kultur generell immer einen klassischen Nutzen haben oder ist es nicht auch ein Wert, sich einfach einmal drei Stunden nur für sich zu gönnen, sich aus dem Alltag zu nehmen, sich keine Gedanken machen zu müssen? Gerrit Prießnitz: Natürlich. Dieses Empfinden ist ein Wert an sich, für den wir uns auch nicht rechtfertigen müssen. Es kann nicht sein, dass wir nach jeder Vorstellung mit dem Rechenschieber dastehen und sich jemand fragt, ob man den Nutzen in einen Algorithmus verpacken kann. Diese drei Stunden Schönheit lassen sich nicht monetär messen, sind aber extrem wertvoll.
Wie beurteilen Sie die aktuelle wirtschaftliche Lage der klassischen Musikszene, insbesondere in Hinblick auf kleinere Orchester? Susanne Fohr: Unabhängig von der Größe von Häusern müssen sich Städte und Regionen überlegen, welches Angebot sie ihren Bürger*innen machen wollen. In den meisten Städten ist der Kulturetat der kleinste von allen, hier nochmals zu sparen, halte ich für kontraproduktiv. Größere Häuser können das eine gewisse Zeit aus eigener Kraft ausbalancieren, bei kleineren wird das schwierig. Die haben keine Ressourcen und Kapazitäten mehr. Stellen Sie sich Innsbruck ohne das Landestheater oder das Haus der Musik Innsbruck vor. Es würde viel verloren gehen.
Gerrit Prießnitz: Orchester, die aus dem Vollen schöpfen können, gibt es heute kaum mehr. Deshalb wird in den meisten Häusern sehr verantwortungsvoll mit den Geldern umgegangen, die zum großen Teil aus der öffentlichen Hand kommen. Wir schauen uns sehr gewissenhaft an, wofür wir das uns zur Verfügung stehende Geld ausgeben. Doch Aufführungen kosten Geld und wir dürfen uns nicht in eine Negativspirale begeben, indem wir immer noch mehr Kompromisse eingehen und damit die Qualität gefährden. Werden die Budgets knapper, müssen die Programme kleinformatiger oder Vorstellungen gestrichen werden. Das wiederum senkt die Attraktivität und folglich die Publikumszahlen. Damit tut man sich auch in Sachen Rentabilität keinen Gefallen. Ein Werk wie „Der Rosenkavalier“ ist beispielsweise mit einem enormen Aufwand verbunden und zugleich ein enormer Publikumsmagnet. Es braucht die richtige Balance und Weitblick, ein Gespür für die Menschen, die Umgebung und die Zeit, dann kann Musik im Theater und bei Konzerten langfristig funktionieren.
Interview: Marina Bernardi
Fotos: Andreas Friedle