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Arbeitsmarkt

5.7.2024

Die allermeisten Branchen suchen aktuell intensiv nach Mitarbeiter*innen. Besonders stark vom Arbeitskräftemangel betroffen sind der Gesundheits- und Pflegebereich, die IT, der (öffentliche) Verkehr und Handwerksberufe wie Elektro-/Installation. Eintrübungen aufgrund von Inflation und schwächerer Konjunktur sind aktuell im Einzelhandel, im Hochbau und in der Industrie spürbar, wo die Beschäftigungszahlen etwas zurückgehen. Im Vergleich zu den letzten Jahren steigt gegenwärtig auch die Arbeitslosigkeit unter Akademiker*innen, wobei diese generell im sehr niedrigen Bereich liegt. Wir haben Sabine Platzer-Werlberger, Landesgeschäftsführerin des AMS Tirol, zum Interview gebeten.

eco.nova: Seit Corona scheinen dem Arbeitsmarkt – gefühlt – zahlreiche Arbeitskräfte abhandengekommen zu sein. Wo sind all diese Menschen hin? Sabine Platzer-Werlberger: Hier trügt uns alle tatsächlich das Gefühl – es haben nämlich noch nie so viele Menschen in Tirol gearbeitet wie gerade jetzt. Mit Ende April zählt man rund 341.600 aufrechte Dienstverhältnisse, ein Beschäftigungsrekord! Was man aber spürt, ist, dass es Veränderungen innerhalb der Beschäftigung gibt. Es arbeiten zwar mehr Menschen, aber in Summe tendenziell etwas kürzer, wobei hier der größte Teil der Teilzeit mit Betreuungsverpflichtung und unbezahlter Arbeit in Zusammenhang steht. Außerdem konnten wir in den letzten Jahren Wanderungen von Jobs aus klassischen Dienstleistungsberufen wie Tourismus oder Handel hin in Richtung öffentlicher Dienst, der massiv Arbeitskräfte aufgestockt hat, Pflege und Soziales beobachten. Das ist prinzipiell etwas Gutes, dennoch herrscht dort noch immer ein akuter Mangel. In anderen Feldern etwa im Handel geht die Beschäftigung indes zurück. In der Gastronomie ist die Beschäftigung nur in der aktuellen Zwischensaison rückläufig, in der vergangenen Wintersaison hatten wir hier einen deutlichen Anstieg. Im Umkehrschluss gibt es trotz wirtschaftlicher Eintrübung daher einen hohen und steigenden Bedarf an Arbeitskräften. Wir befinden uns jetzt auch in einer Phase des demographischen Wandels – die Babyboomer gehen in Pension, es kommen weniger jüngere Arbeitskräfte nach. Dieser Gap wird durch Zuwanderung aus dem Ausland gerade noch positiv kompensiert.

Der aktuelle Beschäftigungsrekord ist in Tirol fast zur Gänze auf die Zuwanderung zurückzuführen. Würde der heimische Arbeitsmarkt ohne ausländische Arbeitskräfte vor einem noch größeren Problem stehen? Definitiv. Allein in der Gastronomie haben derzeit 67 Prozent der Mitarbeiter*innen keine österreichische Staatsbürgerschaft. Corona wirkt am Arbeitsmarkt noch stark nach. Die angesprochenen Wanderungstendenzen betrafen in großem Maße inländische Arbeitskräfte, zusätzliche Stellen wurden vielfach mit ausländischen Arbeitskräften besetzt.

Hat sich seit Corona der Arbeitswille/die Arbeitsmoral/die Einstellung zur Arbeit hierzulande verändert? Die Erfahrungen der letzten Krisenjahre wirken natürlich auf die Gesellschaft und die Menschen und manche Dinge, die wir in dieser Ausnahmesituation lernen und erfahren durften oder auch erleiden mussten, schwingen heute noch mit. Das ist einerseits der Digitalisierungsschub, der wichtig und positiv war. Geblieben ist nach meiner Wahrnehmung eine höhere Bedeutung von flexiblen Arbeitsformen wie 
Homeoffice für manche Arbeitnehmer*innen und Arbeitsuchende und vielleicht ein bisschen mehr Bewusstsein für die Bedeutung von gesundheitlicher Prävention im Arbeitsleben, was ich für ausgesprochen wichtig halte, wenn wir das Erwerbsleben verlängern wollen. Das Work-Life-Balance-Thema wird für meinen Geschmack heute viel zu emotional diskutiert. Speziell der jüngeren Generation wird zugeschrieben, dass sie sich weniger aktiv mit Karriere und Arbeitsleben verbinden und zum Beispiel nur mehr Teilzeit arbeiten will. Ich teile diese stereotype Sicht nicht. Teilzeit muss man sich längerfristig leisten können. Der größte Effekt wäre hier mit dem Ausbau von Kinderbetreuung und Pflegeangeboten in guter Qualität zu setzen. Zudem betrifft der Trend zur Arbeitszeitreduktion nachweislich alle Altersgruppen und eben nicht nur die Jüngeren. Gerade für die älteren Erwerbstätigen über 55 Jahre ist eine Reduktion der Wochenarbeitszeit in den letzten Jahren vor dem Übertritt in die Pension eine attraktive Möglichkeit, um ihre Gesundheit und Arbeitsfähigkeit möglichst lange aufrechtzuerhalten.

Aktuell branden wieder Diskussionen um die Arbeitszeit auf – von der 32- bis zur 41-Stunden-Woche ist alles dabei. Wo liegen Ihrer Erfahrung nach die Wünsche und Vorstellungen aktuell Arbeitsuchender und gibt es Unterschiede zwischen den Altersgruppen? Der Wunsch nach Teilzeit ist eigentlich so zu übersetzen, dass Menschen zusehends Arbeitsstellen suchen, die andere Aspekte des Lebens zulassen und die so gestaltet sind, dass Familie, Hobbys, Weiterbildung und Erholung neben der Arbeit auch noch möglich sind. Im Idealfall sollte dies alles auch bei einem Vollzeitjob möglich sein, wenn die Rahmenbedingungen passen. Fakt ist allerdings, dass der Großteil der Teilzeitbeschäftigten zusätzlich zur bezahlten Arbeit unbezahlte (Care-)Arbeit leistet. Daneben gibt es quer über die Altersgruppen, speziell aber in Bereichen, wo besser ausgebildete Menschen mit höheren Einkommen arbeiten, den Trend, die Arbeitszeit etwas zu reduzieren oder zwischendurch etwa in Form von Sabbaticals zu unterbrechen. Dieser Trend betrifft alle Altersgruppen – Stichwort Altersteilzeit – und wird aktuell auch durch die Gestaltung der Besteuerung von Arbeit begünstigt.

Betrachtet man die Branchen, in denen derzeit verstärkt Mitarbeiter*innen gesucht werden, sind dies vor allem Berufe, die mit körperlicher Arbeit verbunden sind. Täuscht der Eindruck? Es ist tatsächlich so, dass aus einem Fachkräftemangel, der einst meist mit Wissensarbeit assoziiert wurde, ein echter Arbeitskräftemangel quer über alle Branchen und Positionen geworden ist. Es braucht wieder eine verstärkte Hands-on-Mentalität. Im klassischen Handwerk, das den Begriff schon im Namen trägt, in der Pflege oder auch im technischen Bereich werden dringend Leute gesucht. Aber auch die Wissensarbeit geht uns nicht aus, wobei wir merken, dass gerade im administrativen Bereich die Automatisierung und Digitalisierung für Veränderungen sorgt.

Die Digitalisierung und Künstliche Intelligenz verändern den Arbeitsmarkt generell. Werden es Menschen mit niedrig(er)en Bildungsabschlüssen künftig – noch – schwerer haben, Arbeit zu finden? Aus heutiger Sicht schaut es nicht danach aus, weil gerade im Bereich der Hilfsarbeit nach wie vor recht viel Hands on gearbeitet wird und hier die Automatisierung auch ihre Grenzen hat. Außerdem entwickeln sich gerade Assistenz- und Hilfssysteme auf Basis von KI, die Support und Einschulung von Helfer*innen unterstützen bzw. mangelnde Deutschkenntnisse, die im Übrigen nicht nur Ausländer*innen betreffen, ausgleichen können. Aktuell ist es eher die Hoffnung, dass eine weitere Entwicklung der Automatisierung den hohen Arbeitskräftebedarf lindert und den Druck, der aktuell durch die Unterbesetzungen auf den bestehenden Teams lastet, etwas abbauen kann.

Auffallend ist, dass derzeit die Arbeitslosigkeit unter Akademiker*innen im Steigen begriffen ist. Liegt es daran, dass aktuell andere Jobs gefragt sind, oder haben wir schlichtweg zu viele davon? Es gibt tatsächlich mehr Akademiker*innen als früher, dass es zu viele wären, sehe ich allerdings nicht. Spannend ist für mich, dass die Arbeitslosigkeit nicht zwingend Studierende von Orchideenfächern oder Geisteswissenschaften betrifft, wie man vielleicht annehmen könnte. Mittlerweile gibt es auch unter Akademiker*innen eine rege Bewegung zwischen den Jobs. Sind sie früher im Allgemeinen konstant in ihrem Bereich tätig geblieben, so ist das heute nicht mehr so. Auch das spielt in diese Zahlen hinein. Zudem gibt es eine Gruppe von Menschen, die auf eine wissenschaftliche Karriere hingearbeitet haben und diese durch eine zwischenzeitlich sehr intensive Selektion auf den Universitäten nicht einschlagen können. Sie werden dann kurzfristig arbeitslos, finden in der Regel aber sehr schnell einen Job. Im Schnitt bleiben Akademiker*innen nie lange arbeitslos. Man kann aus den Zahlen also nicht rückschließen, dass es zu viele Akademiker*innen gäbe oder sie am Markt vorbeistudieren.

Vor allem High Potentials werden oftmals von der Uni weg von künftigen Arbeitgebern weggeworben und kommen sohin gar nicht auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Gut ausgebildete Personen können sich aufgrund der aktuellen Arbeitsmarktsituation ihre Arbeitgeber quasi aussuchen, die Ansprüche an den künftigen Arbeitgeber steigen damit an. Die Verbundenheit mit dem Arbeitgeber scheint indes heute nicht mehr so ausgeprägt wie früher, bekommt man ein besseres Angebot, wechselt man schneller. In Anbetracht dessen, dass Hard Facts wie Gehalt, technische Ausstattung oder (monetäre/materielle) Benefits von größeren/internationalen Unternehmen allein aufgrund ihrer finanziellen Ausstattung besser zu stemmen sind, wird es für KMU künftig schwieriger werden, geeignetes Personal zu finden?

Es ist aktuell wirklich schwierig, High Potentials zu finden – und vor allen Dingen im Betrieb zu halten. Aktuell ist die durchschnittliche Dauer eines Dienstverhältnisses ungefähr zwei Jahre. Daher ist eine der größten Herausforderungen für alle Betriebe, größere wie kleinere, hier eine passende Strategie des Personalmanagements zu finden. Arbeitgeberattraktivität hängt mit vielen Faktoren zusammen. Gehalt, flexible Arbeitszeit, Familienfreundlichkeit, Weiterbildung, Betriebsklima, Arbeiten mit Sinn sind Faktoren, die für viele wichtig sind. Hier gilt es, ein für das eigene Unternehmen stimmiges Angebot zu kreieren. Als sehr wichtig einzustufen ist die Zufriedenheit der eigenen Belegschaft mit dem Arbeitsplatz – ist man hier auf einem guten Weg und schafft es, Mitarbeiter*innen zu binden, strahlt dies meist nach außen, wenn es darum geht, neue zu finden und einzustellen. Hier haben aus meiner Sicht KMU ganz gute Karten, da gerade die persönliche Komponente, das selbständige Arbeiten und vielleicht auch die Regionalität für viele sehr attraktiv sind.

Schon seit langer Zeit übersteigt die Zahl der offenen Lehrstellen jene der Lehrstellensuchenden. Wo liegt das Problem, die beiden Gruppen entsprechend zueinanderzubringen? Das Problem ist nach wie vor die Demographie. Es sind aktuell einfach Jahrgänge mit niedrigeren Geburtenraten im Lehrlingsalter, mit denen der Abgang von älteren Fachkräften in die Pension nicht kompensiert werden kann. Die Lehrlingszahlen in Tirol sind im Vergleich zu anderen Bundesländern stabil und verhältnismäßig hoch. Da steckt sehr viel Bekenntnis und Engagement zum System der dualen Ausbildung von Seiten der Wirtschaft und aller Stakeholder dahinter. Es ist nach wie vor ein Erfolgsmodell und punktet auch deshalb gut in Konkurrenz mit anderen beruflichen Ausbildungsmodellen, weil die Praxisnähe für viele junge Menschen ein tolles Lernangebot ist. Die inhaltliche Qualität der Ausbildung, der Ausbildner*innen und der Berufsschule hat sich laufend weiterentwickelt, neue Berufsbilder entstehen – und dies ist aus meiner Sicht auch die Richtung, die notwendig ist, um hier weiter junge Menschen zu erreichen und gut auszubilden.

Vor allem bei den Unter 25-Jährigen nahm der Bestand an Arbeitslosen im Vergleich zum Vorjahr auffallend zu. Wie entwickelt sich der Arbeitsmarkt aktuell für junge Menschen? Aktuell steigt die Arbeitslosigkeit von jungen Menschen, wobei wir uns immer noch in einem Ausmaß bewegen, das allgemein betrachtet nicht dramatisch ist. Dennoch sind wir alarmiert, weil es eine Fülle an offenen Stellen und Ausbildungsplätzen gäbe. Häufig haben junge Arbeitslose eine Migrations- oder Fluchtgeschichte und in den allermeisten Fällen nur die Pflichtschule abgeschlossen. In der jüngeren Generation steckt auch noch eine Art „Coronatrauma“. Der Anteil von psychisch beeinträchtigten jungen Menschen hat zugenommen. Hier braucht es neben Lernangeboten und der Existenzsicherung auch psychotherapeutische Settings und Sozialarbeit, in Schulen und eventuell auch in den Betrieben.

Ist es speziell für kleine und mittlere Unternehmen, von denen Tirol stark geprägt ist, aufgrund eingeschränkter Ressourcen auch schwierig, junge Menschen ins Arbeitsleben zu begleiten? Sucht man dringend Arbeitskräfte, braucht man vermutlich welche, die bereits über Erfahrung verfügen und sofort mit anpacken können.

Tirols Betriebe sind offen für die unterschiedlichsten Modelle und nehmen auch gerne ungelernte Kräfte an. Durch den momentanen Druck ist es aber mit Sicherheit schwieriger, sich entsprechend Zeit für eine umfangreiche Einschulung zu nehmen. Das wäre auch eine Erklärung dafür, dass ungelernte Kräfte oft nach kurzen Arbeitsphasen wieder arbeitslos und die Episoden von Hilfsarbeit immer kürzer werden. Diese Dynamik nimmt zu. In der Lehrlingsausbildung schaut das anders aus. Unternehmer*innen sind durchaus bereit, Lehrlinge auszubilden. Kritisch wird es allerdings bei jungen Leuten aus schwierigen Verhältnissen oder ohne einen positiven Pflichtschulabschluss. Sie finden zwar Lehrstellen, die sind aber meist nicht von Dauer. Auch die Plätze für die überbetriebliche Lehre werden leider immer weniger. Eventuell wäre es an der Zeit, diesbezüglich über neue Maßnahmen – auch seitens des AMS – nachzudenken, um zusätzliche Schulungen oder Trainings anzubieten, um Einschulungsphasen neuer Mitarbeiter*innen qualitativ hochwertig zu begleiten.


Interview: Marina Bernardi
Foto: AMS

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