Das zufriedene Lächeln ihrer Großmutter beim Teppichknüpfen oder das glückliche Strahlen ihrer Eltern während handwerklicher Auszeiten prägen die ersten Jahre ihrer Kindheit in Zams. Der Faktor Zeit scheint bei Martina Öttl erst mit dem Eintritt in die Volksschule eine Rolle zu spielen, eine Rolle, der sie sich zwar während ihrer gesamten Ausbildungszeit tapfer stellt, die ihr jedoch nicht immer so behagt hat. Während ihres Studiums entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Nähen und so entschied sie sich kurzerhand, dieses Handwerk professionell zu erlernen und absolvierte im Anschluss an ihr Architekturstudium das Modekolleg und die Meisterklasse für Haute Couture in Wien. Nach Praktika bei Modedesignerinnen und einer Maßschneiderin schloss sie ihre Ausbildung mit der Meisterprüfung für Damenkleidermacher*innen ab. Nach diesen intensiven Ausbildungszeiten keimt in Martina Öttl das starke Gefühl auf, sich eine Auszeit zu gönnen. Ein halbes Jahr sollte es sein. Da kam es gelegen, dass sie sich für ein Sozialprojekt ihres Heimatortes Zams mit dem Dorf Moro in Peru für ein viermonatiges Praktikum in der Näherei Camponi interessierte und nach einem zweimonatigen Sprachkurs in Peru auch absolvierte. „Dass mich meine Reise nach Peru führen wird, war mehr ein glücklicher Zufall. Geplant war ein halbes Jahr Auszeit und Erholung, nach der intensiven Vorbereitungszeit auf die Meisterprüfung für Damenkleidermacher*innen“, erzählt sie. „Die Näherei in Moro im westlichen Zentralperu, bei der ich die meiste Zeit meiner Reise verbracht habe, gehört zu einem mittlerweile Jahrzehnte bestehenden Sozialprojekt mit dem Namen Asociación Caminemos Unidos (ACU) unter der Leitung von Rebecca Frick. Durch diese Verbindung war klar: Es besteht die Möglichkeit, dorthin zu reisen und die Näherei für ein Volontariat für einige Monate zu besuchen. Es hat sich sozusagen einfach ergeben, was im Nachhinein gesehen ein wunderbares Glück für mich war.“Als Glück empfand Martina vor allem, „dass an der Reise sehr wenig geplant war und ich nahezu ohne große Erwartungen losgefahren bin. Ich wollte hauptsächlich zur Ruhe kommen. Aus einem geplanten halben Jahr Auszeit wurden schlussendlich eineinhalb Jahre prägende Lebenszeit.“
Zwischenzeiten füllen Träume
„Ich bin grundsätzlich eine Frau, die sehr detailverliebt arbeitet und eigentlich immer dachte, recht klare Vorstellungen haben zu müssen, wie ein gewünschtes Ergebnis auszusehen habe. Mit dem Projekt habe ich gelernt, flexibler zu werden und Zufälle geschehen zu lassen“, beschreibt die Tiroler Künstlerin heute ihre Eindrücke aus ihren Reisen nach Südamerika. „Früher war eine solche Arbeitsweise für mich undenkbar, heute arbeite ich am liebsten auf diese Art an meinen Stücken. Ich erarbeite mir das fertige Kleidungsstück intuitiv und habe zu Beginn lediglich eine grobe Vorstellung davon, wie dieses werden könnte. Während der Arbeit verändert sich diese Vorstellung dann oft wieder. Ich habe für mich erkannt, dass mir diese Art zu Arbeiten guttut, mir ein Gefühl von Freiheit schenkt.“
So hat sich auch das Lebensmotto von Martina Öttl in den letzten Jahren ein wenig gewandelt. Wünschte sie sich früher immer mehr Lebenszeit, so hat sie diesen Wunsch heute dahingehend revidiert, dass sie sich und der Menschheit mehr „Zwischenzeiten“ wünscht – „mehr Zeit zum Träumen, zum Verstehen, zum im Moment sein.“ Vor diesem Hintergrund hat sie sich auch bei ihrem aktuellen Projekt mit dem Namen „Zwischenzeiten füllen Träume“ jeglichen Zeitdruck genommen und lässt ihre kreativen Schaffensphasen dann fließen, wann immer diese sie überkommen und sich richtig anfühlen. „Das Projekt ist schrittweise entstanden und durfte selbstständig wachsen und sich über die Zeit verändern“, beschreibt sie ihre aus den Aufenthalten in Südamerika gewonnen Lebensweisheiten. „Diese Flexibilität war am Ende der Schlüssel, dass dieses Projekt so kleinteilig und vielschichtig wurde. Es war ein sehr freier Prozess, den ich bis heute nicht in einen Rahmen pressen musste, weil ich davon finanziell nicht abhängig war und bin. Das war ebenso eine sehr wichtige Grundvoraussetzung für mich, diesem Druck nicht ausgesetzt zu sein, dass das Ganze ein Erfolg werden muss. Es darf sein, was es ist. Und das ist gut so“, philosophiert Öttl über ihre Schaffensprozesse.
Kleidung ist wertvoll
Konkret beinhalten ihre Werke Kleidungsstücke und -skulpturen aus handgewebten Stoffen – jenen Stoffen, die Martina während ihres Aufenthaltes in Peru bei der Kooperative Songuillay des Female Empowerment Projekts AWAMAKI weben ließ. „Das entstandene Projekt ist mein Versuch, die alte peruanische Textilkunst behutsam aufzugreifen und um meine zahllosen Erinnerungen, Gedanken und Träume zu erweitern. Mit Hilfe zeitgenössischer Verarbeitung wurden die handgefärbten und -gewebten Wollstoffe der peruanischen Weberinnen von mir zu trag- und wandelbaren Textilobjekten im Maßstab des menschlichen Körpers geformt“, beschreibt Öttl ihr Projekt, an dem sie nun seit etwa drei Jahren arbeitet und in einer ersten Ausstellung im Juni 2022 in der Glasgalerie der alten WU Wien gezeigt hat. „Mit meinem Projekt möchte ich Bewusstsein für den achtsamen Umgang mit Kleidung und Mode schaffen. Ein funktionierendes, gutes Kleidungsstück zu erzeugen, benötigt sehr viel Wissen, Hingabe, Geduld und Zeit. Jeder gesetzte Nadelstich ist dabei wertvoll und wichtig, denn an jedem Faden, an jedem Knopf und jeder Perle hängt vielleicht irgendwann ein verlorenes Gefühl, ein unbedachter Gedanke oder eine vergessene Erinnerung“, lässt Martina Öttl ihren Gefühlen und Gedanken freien Lauf.
„Für das Färben der Wollfäden habe ich mir ganz bestimmte Farben ausgesucht“, erzählt die von den Farben der Natur sowie der Gebäudedächer von La Paz in Bolivien inspirierte Künstlerin weiter. „Ich habe Tage lang ein Farbkonzept erstellt und mich auf gewisse Farben eingestellt. Da wir aber die Wolle ausschließlich mit natürlichen Farbstoffen unter anderem aus Blumen und Pflanzen gefärbt haben, waren dann saisonbedingt bestimmte Farbtöne einfach nicht verfügbar, weil zum Färben oft die frischen Blumen verwendet werden und diese nur zu den jeweiligen Jahreszeiten blühen. Einerseits war ich kurz innerlich aufgewühlt, als mir bewusst wurde, dass manche Farben nicht möglich sein werden. Zwei Wochen voller intensiver Arbeit fühlten sich umsonst und vergeudet an. Auf der anderen Seite musste ich aber sehr schmunzeln, weil ich das alles auch als außerordentlich spannend empfunden habe. Ein kleiner Stolperstein, der zum Innehalten eingeladen hat und mich erkennen ließ: Ja, es kann auch trotz eines fixfertigen Plans etwas nicht funktionieren und daraus etwas sehr viel Spannenderes entstehen.“
Die Suche nach der eigenen Geschwindigkeit
Mit der Erkenntnis, dass nicht immer alles planbar ist und sich aus dem, was einfach da ist, auch neue Ideen und Wege offenbaren können, strebt Martina Öttl wohl ein wenig nach dem Zeitgeist: Entschleunigung als Gegenpol zu unserer schnelllebigen Zeit.
Zeitspannen und -abschnitte werden relativ, wenn man den Prozess von der Ernte der Wolle über das Färben mit Naturmaterialien wie Blumen, Pflanzen und Mineralien bis hin zum Verweben von Hand begleiten darf. So gewann für die Künstlerin bei der Bearbeitung dieser hochwertigen Materialien jeder Nadelstich immer mehr und mehr an Bedeutung und das Projekt durfte in seiner eigenen Geschwindigkeit wachsen. So ergaben sich auch Kooperationsbeiträge anderer Künstlerinnen – etwa ein projektbegleitender Film von Daniela Jud, Mode- und Stillleben-Fotografien von Sophie Kirchner und Fanny Seiwald, Illustrationen von Lisa Prantl, Textilkunst von Deborah Burgstaller und Ohrschmuck von Anna Riess. „Es bleibt zweifellos ein unvorhersehbarer Weg. Nach vorn, zurück und im sich drehenden Moment. Diese unaufhaltsame Reise nach innen“ ist sich Martina Öttl bewusst geworden und blickt damit auf eine spannende Zukunft in ihrer eigenen Geschwindigkeit.
Text: Doris Helweg